3.9. Exkurs: Jürgen Habermas' Kritik an Nietzsches Erkenntnistheorie
Jürgen Habermas hat in mehreren Werken auf Nietzsches Erkenntnistheorie bezug
genommen, um sie scharf zu kritisieren, daher soll in dieser Studie über Nietzsches
Erkenntnistheorie auch kurz auf Habermas eingegangen werden.
Für Habermas stellt Nietzsche einen entscheidenden Wendepunkt der Philosophiegeschichte
dar (die Drehscheibe zum Eintritt in die Postmoderne), und zwar, weil er
nach Kant, Hegel und Marx die Erkenntnistheorie zu einer metakritischen Auflösung von
Erkenntnis überhaupt weitergetrieben habe, was die "Selbstverleugnung der Reflexion"
bedeute. Nach Nietzsche müßten wir zunächst wissen, was Erkenntnis ist, um die
Erkenntnis kritisieren zu können - aber dies wissen wir nicht, das Werkzeug kann sich
nicht selbst kritisieren. Habermas wendet ein, Nietzsche sei hier in positivistischen
Mißverständnissen gefangen, sonst hätte er die Möglichkeit der Selbstreflexion als Kritik
einsehen können. Dabei geht Habermas jedoch selbst von einem Mißverständnis aus,
indem er Nietzsches Erkenntnistheorie übermäßig radikalisiert. Abgesehen davon, daß
es ziemlich gewagt ist, Nietzsche als "Positivisten" zu bezeichnen, kann bei ihm von einer
"Selbstverleugnung der Reflexion" keine Rede sein. Nietzsche behauptet nirgends,
Erkenntnis und Reflexion hätten keinen Wert oder Sinn für den Menschen - er leugnet
nur, daß man über die Erkenntnis Erkenntnisse gewinnen kann, die tatsächliche
"Wahrheiten" wären, denn dazu müßte der Mensch eine nicht-menschliche Erkenntnisperspektive
einnehmen, was natürlich unmöglich ist. Dennoch bleibt auch für
Nietzsche die Möglichkeit der Selbstreflexion, allerdings ist ihr Ergebnis die Einsicht in
ihre eigene perspektivische Begrenztheit. So wird die Erkenntnistheorie zu einer
"Perspektivenlehre der Affekte", jedoch nicht, wie Habermas unterstellt, weil Nietzsche
"Erkenntnistheorie von Anbeginn als unmöglich abgewiesen hätte"
: Der Perspektivismus
ist für Nietzsche kein Ersatz für Erkenntnistheorie, sondern ihre letzte Konsequenz,
nachdem sie nicht abgewiesen, sondern zuendegedacht wurde.
Habermas zeigt im übrigen, daß er Nietzsches Perspektivismus falsch interpretiert,
nämlich als Relativismus, wenn er ihn so darstellt, als könne "jede beliebige Illusion,
wenn in ihr nur irgendein Bedürfnis die Welt interpretiert, den gleichen Geltungsanspruch
stellen".
Für Nietzsche gibt es jedoch eine solche Gleich-Gültigkeit sämtlicher
Bedürfnisse und Interpretationen keineswegs: Es ist gerade die Hauptaufgabe der
Philosophie, die Bedürfnisse hinsichtlich ihres Wertes für das Leben zu unterscheiden,
sowie irrtümliche Interpretationen aufzuspüren und zu verwerfen. Der Perspektivismus
bestreitet die Möglichkeit der Wahrheit, aber keineswegs die Möglichkeit des Irrtums - eine
Interpretation, die als Irrtum erkannt wurde, ist damit erledigt,
und daraus ergibt
sich die Notwendigkeit von Erkenntnis auch für eine perspektivistische Philosophie.
Auch fast zwei Jahrzehnte nach seiner frühen Nietzsche-Kritik attackiert Habermas ihn
ebenso energisch, nur daß er Nietzsche statt Positivismus jetzt Ästhetizismus vorwirft: Er
wolle die Vernunft verwerfen, um "im Mythos, als dem Anderen der Vernunft, Fuß zu
fassen".
Dabei bezieht sich Habermas auf die "Geburt der Tragödie", verallgemeinert
dann deren Intention und überträgt sie auf Nietzsches gesamte Philosophie, als ob es
keinerlei Entwicklung zwischen der "Geburt der Tragödie" und Nietzsches Spätwerk
gäbe - eine völlig unzulässige Verfahrensweise. So will Habermas schon seine These,
Nietzsche wolle die Vernunft durch den Mythos ersetzen, mit einem Zitat aus "Vom
Nutzen und Nachteil der Historie" belegen, in dem es heißt: "das Wissen muß seinen
Stachel gegen sich selbst kehren".
Damit habe Nietzsche "natürlich seine 'Geburt der
Tragödie' im Sinn".
Im nächsten Kapitel soll gezeigt werden, daß dies keineswegs so
"natürlich" ist, wie Habermas meint. Davon abgesehen, zielt Nietzsche mit seiner
Metapher "natürlich" auf seinen Begriff der tragischen Erkenntnis, der in der Tat aus der
"Geburt der Tragödie" stammt, aber die tragische Erkenntnis ist ja gerade nicht (wie im
ersten Kapitel hoffentlich verdeutlicht werden konnte) ein simples Ersetzen der Vernunft
durch den Mythos.
Habermas vermißt bei Nietzsche die vernünftige Begründung seiner normativen
Maßstäbe. Der Wissenschaft habe Nietzsche das normative Vermögen abgesprochen.
Es blieben nur noch ästhetische Urteile übrig, aber die könne er nicht legitimieren.
Damit vertritt Habermas genau die Haltung des Sokratismus, die Nietzsche in der
"Geburt der Tragödie" ausführlich kritisiert hat: Er meint, der Mensch müsse sich
jederzeit bewußt Rechenschaft über sich selbst und über sein Handeln ablegen können,
um legitimiert zu sein. Nietzsche dagegen hinterfragt gerade dieses Bedürfnis nach
Legitimierung und ordnet es in das menschliche Leben ein: Demzufolge wäre es paradox,
das Leben selbst wiederum einem Zwang zur Legitimierung zu unterstellen. Die
ästhetischen Urteile sind nun für Nietzsche eng verknüpft mit dem Leben, sie entspringen
direkt der menschlichen Leiblichkeit (was Habermas übersieht). Eine Legitimation für
diese ästhetischen Urteile zu verlangen, hieße also, zu fordern, daß das Leben selbst sich
legitimieren müsse, und das wäre nicht nur absurd (der Fordernde müßte an der
fehlenden Legitimation seiner eigenen Existenz verzweifeln), sondern auch ethisch höchst
bedenklich.
Habermas' Resümee lautet dann, Nietzsche würde in seiner späten Philosophie zwischen
zwei Strategien schwanken: Einerseits "suggeriert sich Nietzsche die Möglichkeit einer
artistischen Weltbetrachtung, die mit wissenschaftlichen Mitteln, aber in
antimetaphysischer, antiromantischer, pessimistischer und skeptischer Einstellung
durchgeführt wird."
Andererseits habe er aber das Problem, diese Weltbetrachtung zu
legitimieren, und deshalb behaupte er auch die Möglichkeit einer genealogischen
Metaphysik-Kritik.
Gegen Habermas' Interpretation lassen sich zwei Einwände erheben: Erstens ist nicht
einzusehen, warum Nietzsche hier "schwanken" sollte, denn wenn die "artistische
Weltbetrachtung" bereits wissenschaftlich und antimetaphysisch ist, setzt sie die
Möglichkeit einer (mit Nietzsches genealogischer Methode durchzuführenden)
Metaphysik-Kritik voraus, es kann sich also nicht um zwei verschiedene, unvereinbare
Positionen handeln. Zweitens ist es jedoch schon falsch, dem späten Nietzsche noch eine
"artistische Weltbetrachtung" zuschreiben zu wollen. Weil sowohl in der "Geburt der
Tragödie" als auch im "Antichrist" von Dionysos die Rede ist, wird Habermas offenbar
zu der Annahme verleitet, es gäbe keinerlei Unterschied zwischen Nietzsches früher und
später Philosophie - dabei wurde in der Nietzsche-Forschung längst ausführlich erörtert,
daß es sich hier um zwei grundverschiedene "Dionysos"-Konzepte handelt (der frühe
Dionysos steht neben Apollon, der späte gegen Christus). Aber selbst wenn man diese
Einwände beiseite ließe, selbst wenn man die Kritik, Nietzsche schwanke zwischen
Kunst und Wissenschaft, akzeptieren würde - man hätte nur festgestellt, was Nietzsche
selbst in der "Geburt der Tragödie" formulierte: das Problem der tragischen Erkenntnis,
die Frage nach dem musiktreibenden Sokrates. Doch das kann nicht das Ergebnis einer
Nietzsche-Interpretation sein - es ist erst der Anfang.