3.8. Das Verhältnis von Vernunft und Kunst
Der dargelegten Argumentation zufolge ist die Vernunft nichts als der Drang, die Abstraktionen
in Systemen zu ordnen. Beim Durchdenken jener Schemata findet man dann
"Wahrheiten", aber nur solche, die man selbst dort vorher versteckt hat. So wie die
Begriffe Metaphern sind, ist die Vernunft das Spiel mit diesen Metaphern - über die allzumenschlichen
Grenzen gelangt man damit nicht hinaus.
Im zweiten Teil des Textes "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" geht
es dann um die Kunst. Der menschliche "Trieb zur Metapherbildung"
kann im Reich der Begriffe und der Vernunft noch keine volle Befriedigung
finden. Er setzt sein Wirken fort in den Bereichen des Mythos und der Kunst.
"Der Mensch selbst aber hat einen unbesiegbaren Hang, sich täuschen
zu lassen und ist wie bezaubert vor Glück, wenn der Rhapsode ihm epische
Märchen wie wahr erzählt oder der Schauspieler im Schauspiel den
König noch königlicher agirt, als ihn die Wirklichkeit zeigt."
Es handelt sich um ein und denselben Trieb zur Metaphernbildung, der auf
der einen Seite in den Dienst des Nützlichen, der Bedürftigkeit
oder Notdurft gestellt ist, auf der anderen Seite sich frei entfalten darf,
solange er nicht schadet. Im ersten Fall wird er von den Begriffen, im zweiten
von Intuitionen geleitet, aber Nietzsche bevorzugt offenbar keinen der Fälle,
wenn er dem ersteren Verzerrung, dem letzteren Verstellung bescheinigt.
Nietzsche
führt das ältere Griechenland als Beispiel für eine Zeit an,
in der der intuitive Mensch den Vorrang über dem vernünftigen besaß.
Die Griechen hat Nietzsche aber immer sehr geschätzt, und auch hier
gewinnt man nicht den Eindruck, Nietzsche würde ihren Weg verwerfen,
wenn er schreibt, unter den genannten Bedingungen "kann sich günstigen
Falls eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben
sich gründen". Zwar verleugnet die Kunst die Bedürftigkeit, der
Kontext sagt aber nicht, daß es erstrebenswerter wäre, die Bedürftigkeit
spartanisch zu erdulden. Der vernünftige Mensch wehrt das Unglück
ab, ohne sich Glück erzwingen zu können, der intuitive Mensch findet
Aufheiterung und Erlösung. Nietzsche knüpft daran eine Ausführung,
die stark biographisch gefärbt sein dürfte: Der intuitive Mensch
leide heftiger, wenn er leide - der vernünftige Mensch hingegen trage
das Unglück mit stoischem Gleichmut: "Wenn eine rechte Wetterwolke sich
über ihn ausgiesst, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht
langsamen Schrittes unter ihr davon." Mit beiden Typen kann Nietzsche sich
identifiziert haben, denn einerseits spricht er immer wieder von (seinem
eigenen) Leiden, andererseits berichtet seine Schwester, wie er als Schüler
einmal bei einem Unwetter
langsamen Schrittes seinen Weg fortgesetzt habe - er kannte also auch
das Bild für seinen "vernünftigen Menschen" aus eigener Erfahrung.
In Nietzsches Notizbüchern der Jahre 1872/73
finden sich unter den Gedanken, die in "Über Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne" eingegangen sind, auch solche, die den Wert der
Kunst stärker betonen, als dies in "Über Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne" geschieht (man darf nicht vergessen, daß
ja auch "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" nur
ein Fragment ist, und daß gerade der zweite Teil, in dem es um die
Kunst geht, nicht zu einem wohldurchdachten Schluß geführt wird,
sondern plötzlich abbricht). In den Notizen behandelt Nietzsche das tragische
Problem, daß der Mensch, obwohl er sehr danach strebt, unmöglich
die vollkommene Wahrhaftigkeit erreichen kann. Diese Unmöglichkeit bedeutet
eine Abwertung der Wissenschaft und eine Aufwertung der Kunst. "Wahrhaftigkeit
der Kunst: sie allein jetzt ehrlich." Es kann also keine Rede davon sein,
daß "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" einen
klaren Bruch Nietzsches mit seiner früheren Verherrlichung der Kunst
darstelle - dieser Aspekt fehlt in "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne" nur, weil der Text nicht fertiggestellt wurde.
Eine andere Notiz könnte
aufschlußreich für die geplante Fortführung von "Über
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" sein:
"Erste Stufe der
Kultur: der Glaube an die Sprache, als durchgehende Metapherbezeichnung.
Zweite Stufe der Kultur: Einheit und Zusammenhang der Metapherwelt durch
Anlehnung an Homer."
Der Glaube an die Wahrheit der Metaphernwelt ist das,
was Nietzsche im ersten Teil von "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne" dargestellt hat. Der zweite Teil hätte dann zeigen müssen,
wie nach dem Vorbild Homers jenes Begriffs-Gebäude aus Spinnenfäden
vereinheitlicht wird, so daß es das Grundgerüst einer Kultur bildet.
Nietzsches Beurteilung der Metaphernwelt erscheint so viel weniger abwertend, als aus
"Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" deutlich wird.
Demnach scheinen sich Nietzsches Gedanken in dem Text "Ueber Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne" gar nicht so sehr von denen in der "Geburt der Tragödie" zu
unterscheiden. Nietzsche sieht jetzt zwar keine Möglichkeit mehr, zur Erkenntnis des Ur-Einen
zu gelangen, aber die Grundkonstellation bleibt: Die Kunst macht das Leben
erträglich. Was in der "Geburt der Tragödie" die Weisheit des Silen war, wird nun
"Bedürftigkeit" genannt.