3.7. Der anthropomorphe Charakter des Erkennens und das Problem der "Erscheinung"
Nietzsche radikalisiert die Erkenntnistheorie, indem er auch den Begriff der
"Erscheinung" ablehnt
- hier knüpft er wieder an sein Bild der Chladnischen
Klangfiguren an. Da es sich bei "Subjekt" und "Objekt" um zwei völlig verschiedene
Sphären handelt (wie beim Ton und den Sandfiguren), kann keine Rede davon sein, daß
die eine Sphäre in der anderen "erscheinen" würde - vielmehr findet auf der "Oberfläche"
(im Bewußtsein) ein Übersetzungsprozeß statt, bei dem aufgrund eines Reizes ein Bild
erzeugt wird. Dieses Bild ist aber keine Abbildung des Klanges, denn der Klang kann
als Klang unmöglich abgebildet werden. Es ist zwar als Metapher durchaus nicht wertlos
für den Menschen, bleibt aber rein anthropomorph und kann deshalb nicht "wahr" sein,
denn die Mücke hat von demselben Objekt ein ganz anderes Bild. So wie der Mensch
die Welt anthropomorph sieht, sieht die Mücke sie (sit venia verbo) empimorph - es gibt
hier keine neutrale Instanz, die entscheiden könnte, ob eine der Perspektiven der
"Wahrheit" entspricht.
Der anthropomorphe Charakter des Erkennens bedeutet, daß alle Formen, die der
Mensch wahrnimmt, in der Natur selbst nicht vorhanden sind. Die Natur ist das
Unendliche,
jegliche Grenze, Gestalt und Größe ist vom Menschen in sie hineinprojiziert
- dies macht deutlich, in welchem Ausmaß unsere Wahrnehmungswelt anthropomorph
ist. Zum Beispiel ist ein Baum, bzw. was uns als solcher erscheint, in doppelter Weise
anthropomorph: Erstens gibt es die willkürlich abgegrenzte Einheit "Baum" als Einheit
nicht, und zweitens sind die Relationen, in denen uns der "Baum" erscheint, nicht an sich
gegeben, sondern anthropomorph gefärbt.
In den Nachlaß-Notizen geht Nietzsche noch weiter: Auch Kausalität ist eine Metapher,
ein Analogieschluß, das Verhältnis von Wille und Tat, auf die Dinge übertragen.
Hier
bezieht sich Nietzsche wieder auf das Beispiel des optischen Sinnes: Der Mensch würde
die passive Reaktion des Auges auf den aktiven Reiz als aktiv empfinden, und dies sei
der erste Kausalitätsschluß. Eine solche Verbindung von Reiz und Reaktion würde dann
auf alle Dinge übertragen. Nietzsches Argumentation ist in diesen Notizen jedoch noch
sehr unklar und läßt viele Fragen offen.
Neben der Kausalität sind auch Raum und Zeit für Nietzsche Metaphern, wobei er sich
nicht entscheiden kann, ob die Raumempfindung von der Zeitempfindung abzuleiten
wäre, oder umgekehrt.
Die Notizen gewähren hier Einblick in die Entwicklung seiner
Gedanken. Nietzsche steht vor dem Problem, daß Raum und Zeit nicht Metaphern sein
können und gleichzeitig das eine aus dem anderen abzuleiten ist. Sie können dann
nämlich unmöglich auf derselben Ebene stehen: Entweder wäre nur eines von beiden
eine Metapher, oder das andere wäre eine Meta-Metapher. Nietzsche hat diese Fragen
hier jedoch nicht weiter verfolgt.