3.6. Der Mensch als Architekt und Bewohner stabiler Begriffsdome
Die Formulierung "Heer von Metaphern..." enthält noch einen anderen Aspekt, auf den
de Man aufmerksam macht: Als Heer ist Wahrheit keine Sache der Überzeugung,
sondern der Gewalt bzw. der Kraft. Nietzsche geht auf diesen Gedanken in den
Notizen
näher ein, wo es heißt, die Wahrheit wirke nicht durch logische Beweise,
sondern durch Beweise der Kraft. Im Kampf zwischen verschiedenen Überzeugungen
ist die Logik nur als Instrument, als Waffe entwickelt worden, nicht sie entscheidet den
Kampf, sondern letztlich gibt allein die Kraft einer Überzeugung den Ausschlag, und die
Kraft bestimmt sich durch ihren Wert für das Leben.
Aber die Menschen vergessen dies im Laufe eines durch Jahrhunderte hindurch sich
verfestigenden Sprachgebrauches, sie fühlen dann eine zwingende Verpflichtung, ein
Wort auf einen bestimmten Zusammenhang anzuwenden und zu glauben, daß in diesem
Wort eine "Wahrheit" läge. So stellt sich der Mensch unter die Herrschaft von
Abstraktionen - anstatt sich spontan von den jeweiligen Eindrücken anregen zu lassen,
verallgemeinert er sie zunächst, um sie in das tradierte Begriffssystem einzuordnen. Diese
Eigenheit des Menschen ist es, die ihn vom Tier unterscheidet.
Hier stutzt man: Klang
Nietzsches Feststellung, der Mensch unterwerfe sich der Herrschaft von Abstraktionen,
nicht zunächst sehr negativ? Und nun erkennt er gerade darin den Unterschied zum Tier?
Wie paßt das zusammen?
Der Mensch hat die Fähigkeit, ja sogar den einer Notwendigkeit entspringenden Drang,
"Begriffsdome" zu errichten - eine Leistung, die besonders bemerkenswert ist, weil diese
Begriffsdome nicht auf festen Fundamenten, sondern sozusagen auf fließendem Wasser
gebaut sind. Es sind Bauwerke "wie aus Spinnefäden",
leicht genug, um vom Wasser
getragen zu werden, fest genug, um nicht zu zerreißen, und aus des Menschen eigener
Substanz hervorgebracht, wie auch die Spinne ihre Fäden aus sich selbst und nicht aus
fremdem Material erzeugt. Nietzsche nennt diese Leistung bewunderungswürdig, und
das meint er durchaus nicht ironisch. Nur Wahrheit ist in diesem Begriffsdom nicht zu
finden. "Wahrheit" ist die richtige Zuordnung von Begriffen innerhalb des Gebäudes, aber
was dort "richtig" und "falsch" heißt, wurde vom Menschen selbst definiert, daher findet
er immer nur Wahrheiten, die er selbst geschaffen hat,
und kommt über die
anthropomorphen Strukturen des Begriffsdomes nicht hinaus.
Der Mensch vergißt also den metaphorischen Charakter seiner Begriffe und betrachtet
sie als Dinge an sich. Dieses Vergessen ist allerdings auch notwendig, damit der Mensch
seine Sicherheit, sein Selbstbewußtsein bewahren kann. Nietzsche ruft also nicht etwa
dazu auf, der Mensch solle sich ständig der Anthropomorphismen in seiner Erkenntnis
bewußt sein, denn das wäre unmöglich. Stattdessen geht es ihm darum, die Relativität
der menschlichen Erkenntnis theoretisch deutlich zu machen, um zu zeigen, daß der
Begriff "Wahrheit" nur innerhalb einer anthropomorphen Optik sinnvoll sein kann.