3.5. Die Entstehung der Begriffe als nützlicher "Lügen"
Nietzsche stellt fest, daß die Sinneswahrnehmung nicht, wie es bei Helmholtz heißt, auf
unbewußten Schlüssen beruhe, sondern auf "Tropen",
also auf bildlichen Ausdrücken.
Er verwendet diesen philologischen Terminus, um deutlich zu machen, daß ein Bewußtseinsbild
ebenso wie ein sprachliches Bild, auf einer Gleichsetzung von Ähnlichem
beruht. Mittels solcher Gleichsetzungen wurden aus akustischen und optischen Wahr-nehmungen
Abstraktionen geschaffen, die auf viele Erscheinungen passen, dem einzelnen
Phänomen gegenüber aber unzureichend sind. Also bereits unsere Bewußtseinsbilder
sind "erdichtet". Sie sind aber auch keine reinen Erfindungen, denn unsere Sinne ahmen
die Natur nach,
und im Laufe der Naturgeschichte gelingt ihnen dies immer besser. Ein
Reiz, der auf das Nervensystem einwirkt, wird dann in Metaphern übertragen, wobei
ein Reiz nicht nur eine, sondern zahlreiche verschiedene Metaphern
hervorruft, ähnlich
wie bei einem Musikinstrument nicht nur der angeschlagene Ton erklingt, sondern auch
die Obertöne mitschwingen. Die Metaphern entfalten dann wiederum ihre eigenen
Wirkungen.
Nietzsche betrachtet nun die Entstehung der Begriffe - sie sind Abstraktionen einmaliger
Urerlebnisse, "Gleichsetzen des Nicht-Gleichen".
Als Beispiel dient der Begriff "Ehrlichkeit":
Ihm liegen zahlreiche einzelne, ehrliche Handlungen zugrunde, von deren
Unterschieden abgesehen wird, und "zuletzt formuliren wir aus ihnen eine qualitas occulta
mit dem Namen: die Ehrlichkeit."
Nun überträgt der Mensch die Vorstellung von
"Wahrheit" aus dem Bereich der Kommunikation auf die Welt - er will selbst in
vollkommener Wahrheit leben, die Illusionen überwinden, er glaubt an die Wahrheit der
Dinge und an ihre Ergründbarkeit.
Die "Wahrheit" entsteht also daraus, daß der Mensch sein Lügen vergißt:
"Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen
kurz eine Summe von menschlichen Relationen, (...) die nach langem Gebrauche
einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von
denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich
kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr
als Münzen in Betracht kommen."
Ein Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen - die Formulierung
mutet merkwürdig an. Zunächst ist sie deutlich selbst als Metapher (Heer)
gekennzeichnet, was nur konsequent ist, die Interpretation aber nicht einfacher macht.
Aber was für seltsame Truppen läßt Nietzsche hier aufmarschieren? Zwei Begriffe aus
der Philologie (Metapher, Metonymie) mit nur geringem Bedeutungsunterschied, gefolgt
von einem anderen Begriff (Anthropomorphismus), der gar nicht in diese Reihe zu
passen scheint - ein ziemlich heterogenes Heer offenbar. Oder sollten Rangunterschiede
gemeint sein? Stellen die Anthropomorphismen die Offizierskaste dar, der die
Metaphern und Metonymien untergeordnet sind? Nach Paul de Mans Interpretation ist
dies nicht der Fall: Zwischen Anthropomorphismen und Metaphern bzw. Metonymien
gibt es keine hierarchische Verbindung, im Gegenteil: "Weit entfernt, dasselbe zu sein,
schließen solche Tropen wie Metapher (oder Metonymie) und Anthropomorphismus
einander aus."
Und zwar deshalb, weil de Man, indem er auch den
Anthropomorphismus auf einen philologischen Nenner bringen will, ihn als Eigennamen
bestimmt. Er bezieht sich damit auf Ovids Metamorphosen, in denen spezifische
Einzelwesen wie Narziß oder Daphne die Muster dessen bilden, was man als
Anthropomorphismen in der Natur bezeichnen kann. Hierbei handelt es sich aber
offenbar um einen besonderen Fall von Anthropomorphismus - daß man darüber hinausgehend
alle Anthropomorphismen als Eigennamen
definieren könnte, wird aus de
Mans Argumentation nicht klar.
Mir scheint, Nietzsche wollte auf etwas anderes hinaus. Bei einer Metonymie bezieht
jemand ein Bild auf einen damit inhaltlich verwandten Gegenstand;
bei einer Metapher
bezieht jemand ein Bild auf einen Gegenstand, ohne inhaltliche Verwandtschaft; bei
einem Anthropomorphismus bezieht jemand sich selbst auf einen Gegenstand. Die
Metapher schafft der Mensch nach (irgend)einem Bilde, den Anthropomorphismus
schafft er nach seinem Bilde. Auf diese Weise gelingt es doch, die drei Begriffe in eine
sinnvolle Reihe zu stellen: Man muß nur bedenken, daß es außer Signifikat und Signifikanten
immer auch einen Signifizierenden gibt, also einen Menschen, der die Zeichen
verwendet. Mit den Anthropomorphismen mischt der Signifizierende sich selbst in das
Bezeichnungsspiel, er wird zugleich Signifikant. So verstanden sind Anthropomorphismen
durchaus eine Art von Metapher - zugleich sind aber alle Metaphern, da sie
immer nur von Menschen geprägt werden können, Anthropomorphismen. Weil der
Mensch in seiner menschlichen Perspektive gefangen ist, sind seine Metaphern notgedrungen
anthropomorph, denn zum einen entspringt das Bild, das in die Metapher
eingeht, einer menschlichen Optik, zum anderen ist der Signifizierende, der die Metapher
prägt, ein Mensch.
Durch die anthropomorphe Perspektive bedingt, hält der Mensch die Welt für einfacher,
als sie ist, denn er geht immer von sich aus, von dem, was den Mechanismen seines Gehirns entspricht.
Damit ist das Weltverständnis immer an das Selbstverständnis des
Menschen gekoppelt, es gewinnt zwar im Laufe der Geistesgeschichte an Komplexität,
kann jedoch seinen anthropomorphen Charakter niemals vollständig ablegen.
Spätestens an dieser Stelle sollte der Einwand berücksichtigt werden, der fast
zwangsläufig gegen jeden "Leugner der Wahrheit" erhoben wird: Wenn Nietzsche meint,
Wahrheit wäre nur ein Heer von Metaphern, wie kann er dann selbst schreiben und vom
Leser erwarten, daß der seinen Text für "wahr" hält? Ist nicht auch der Text "Über
Wahrheit und Lüge" nur eine Metapher, ist damit nicht die Lehre, Wahrheit sei eine
Metapher, nur eine Metapher, also nicht wahr?
Nietzsche sucht den Ausweg aus diesem Dilemma, indem er zu einem stilistischen Mittel
greift, das ihn nach Paul de Man zum ersten Dekonstruktivisten macht: Er vermeidet
bewußt die Wörter "ich" und "wir", sowie alle auf die erste Person bezogenen
Pronomina.
Dadurch erscheint der Text zunächst so, als habe er keinen Sprecher, der
sich durch den Inhalt widersprechen könnte, als Ursache, sondern als sei er ein
autonomes Instrument zur Dekonstruktion des Wahrheitsanspruches von Texten.
Natürlich wird damit das Dilemma nicht wirklich aufgelöst, aber gerade durch die
Verdeutlichung des Dilemmas wird der Wahrheitsanspruch dekonstruiert, und indem der
Autor des Textes zurücktritt, wird auch der Text in sich schlüssig. Die Problematik
dieser Verfahrensweise blieb Nietzsche jedoch bewußt, und später sollte er den genau
entgegengesetzten Weg wählen: Durch seinen exzessiv-individualistischen Habitus, durch
seinen Subjektivismus, der den Leser mit banalsten Details über Nietzsches
Gesundheitszustand und Alltagsleben behelligt, und der hinter jeder Zeile anklingen läßt:
ICH, Friedrich Nietzsche, sage das! - durch diese Mittel erzielt er denselben Effekt, den
er schon in "Wahrheit und Lüge" erreichen wollte: die Aufhebung des
Wahrheitsanspruches.