3.4. Nietzsches künstlerisch-konstruktivistische Theorie des Bewußtseins

In Nietzsches Notizen sind die Beziehungen zwischen dem Bewußtsein und einer "Oberfläche" noch detaillierter entwickelt, hier wird das Denken direkt aus dem Sehen abgeleitet. Die Bilder, wie sie das Auge erfaßt, sind "Urdenken", so wie die Augen nur die Oberfläche der Dinge begreift, ist auch der Verstand eine "Flächenkraft", wobei dem Bild der Begriff entspricht. Die Begriffe entstehen durch ein willkürliches Rubrizieren und Benennen, ohne Erkenntnis des Dinges an sich.
Wenn das Denken so eng mit dem Auge verknüpft ist, kann Nietzsche davon sprechen, daß der Mensch als denkendes Subjekt ganz vom Auge beherrscht wird. Das Ohr dagegen konzipiert dieselbe Welt auf ganz andere Weise - ein Gedanke, der schon in der "Geburt der Tragödie" zu finden ist.
 Auch bei der Begriffsbildung ist wieder die künstlerische Illusion am Werk, die ihr einheitliches Bild schafft, indem sie gewisse Details übersieht und wegläßt: "Zu jedem wahren Sein verhalten wir uns oberflächlich, wir reden die Sprache des Symbols, des Bildes: sodann thun wir etwas hinzu, mit künstlerischer Kraft, indem wir die Hauptzüge verstärken, die Nebenzüge vergessen."
Das Denken ist für Nietzsche ein Vorgang, bei dem die Reflexion Einfälle der Phantasie an bekannten, früher schon geprüften Gedanken-Ketten mißt. Ähnlich wie beim Sehen vollzieht sich dies durch ein Hervorheben bestimmter Züge und ein Vernachlässigen anderer. Eine Vielzahl solcher Gedanken- oder Bilder-Ketten ist im Gehirn gespeichert, viel mehr, als zum jeweiligen Denkvorgang benötigt werden. Der Intellekt wählt nun auf Anregung der Phantasie in "Gedankenschnelle" ein bestimmtes Bild aus einer Reihe von ähnlichen aus, das gewählte Bild wirkt als Anregung einer anderen Reihe, wiederum wird hieraus ein Bild gewählt, usw. - dies ist das Denken. Es ist erstaunlich, wie Nietzsche hiermit modernste Theorien der Bewußtseinsforschung (vor allem den sog. Konnektionismus) vorwegnimmt. Im Unterschied zu den modernen Wissenschaftlern betont er allerdings die künstlerische Kraft, die hier am Werk sei, und zwar in doppelter Weise: als bildererzeugende und als auswählende Kraft. Nietzsche belegt seine These mit der Traumwelt, wo die vom Auge gelieferten Bilder fehlen, wodurch die inneren Bilderketten frei schweifen können, ohne modifiziert zu werden und ohne zur Abstraktion weiterzuführen. Er schränkt jedoch ein, daß jene künstlerischen Assoziationen nicht völlig frei seien, denn Willkür sei gar nicht möglich (er leugnet, Schopenhauer folgend, die Willensfreiheit). Dann folgt jene oben zitierte Passage, in der die "Chladni'schen Klangfiguren" auftauchen.
Auch Nietzsches "Physiologie der Kunst", die in seiner Spätphilosophie in den Vordergrund rückt, muß schon in diesem Zusammenhang genannt werden. "Der künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig." Diese physiologische Tätigkeit wird von Nietzsche dann identifiziert mit den "allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen".  Lust und Schmerz sind demnach die unbewußten Kräfte, die sich auf der Oberfläche des Bewußtseins als Formen und Bilder darstellen.
Damit ist jener Prozeß des Bilder-Hervorbringens im Bewußtsein, den Nietzsche "künstlerisch" nennt, physiologisch bestimmt - aber ebenso physiologisch bestimmt und absolut notwendig ist auch jede Kunst im engeren Sinne, weil sie auf den inneren Prozessen basiert. Alle Grenzziehungen zwischen Leib und Seele, Körper und Geist werden damit fragwürdig. Die "Physiologie der Kunst" ist nicht nur ein Thema der Spätphilosophie Nietzsches, "dem er gegen Ende seines Schaffens große Aufmerksamkeit schenkt", denn dieses Stichwort taucht bereits 1872 auf.
An der Oberfläche des Bewußtseins werden die Bilder in Begriffe umgesetzt, die es im Unbewußten nicht gibt. Das unbewußte Denken vollzieht sich nur in Anschauungen und entspricht damit dem Denken des Künstlers, der Philosoph dagegen bemüht sich an die Stelle der unbewußten Bilder bewußte Begriffe zu setzen.