3.3. Wahrheit als Metapher

Wahrheit ist also ein rein ethisches und sprachphilosophisches Problem - Lüge wird als Abweichung von der sprachlichen Konvention definiert. Das heißt aber nicht, daß hinter dem richtigen Gebrauch der Sprache eine tiefere Wahrheit läge: "Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschließen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde." Das Ding an sich ist dem Menschen vollkommen unzugänglich. Was er fälschlicherweise dafür hält, sind Metaphern, die auf der Grundlage jener Nervenreize gebildet wurden. "Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher." Der Glaube, diese Metaphern seien das Ding an sich, wäre demnach vergleichbar einem tauben Menschen, der die Chladnischen Klangfiguren betrachtet und dann meint, er wisse, was Musik sei.
Sand ordnet sich zu Figuren, wenn er sich auf einer dünnen Platte befindet, die durch Töne in Schwingung versetzt wird: dies sind die sogenannten Chladnischen Klangfiguren. In Nietzsches Aufzeichnungen werden sie mehrfach erwähnt - was interessierte ihn daran?
Eine Notiz aus dem Jahr 1872 ist in diesem Zusammenhang sehr interessant:
"die feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die Chladni'schen Klangfiguren zu dem Klang selbst: so diese Bilder zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit. Das allerzarteste sich Schwingen und Zittern! Der künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die unendliche Thätigkeit nicht."
Zunächst handelt es sich hier um den Sprung aus einer phänomenalen Ebene auf eine andere, aus der akustischen in die optische Welt, die von Nietzsche sonst strikt getrennt werden. Außerdem liegt es nahe, die Fläche, auf der sich der Sand befindet, metaphorisch als "Oberfläche" zu begreifen, die von einer verborgenen Kraft affiziert wird. Doch obwohl die Bilder fast identisch sind, gibt es bedeutende Unterschiede zwischen der Notiz 19 [79] und der zitierten Stelle aus "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne". In den Notizen setzt Nietzsche das bewußte Denken in Bezug zum optischen Sinn, und demzufolge kann er nun den Klang analog zum Unbewußten verstehen. Das heißt also: Das Bewußtsein glaubt zwar, seine "Figuren" (Gedanken) frei und willkürlich zu schaffen, tatsächlich sind diese Figuren aber nur die Auswirkungen einer anderen Kraft, nämlich der unbewußten, physiologischen Tätigkeit des menschlichen Körpers. In "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" stehen die Klangfiguren dagegen für das Ding an sich! Es wirkt zunächst sehr verblüffend, daß Nietzsche dieselbe Metapher auf das menschliche Unterbewußtsein und auf das Ding an sich bezieht. Beim näheren Hinsehen gerät dann in den Blick, daß die Metapher jeweils das Verhältnis des Bewußtseins zu etwas umschreibt, und zwar zu den (unbewußten) Nervenreizen. Der Sprung von einer Ebene auf eine andere vollzieht sich innerhalb des menschlichen Körpers, an der Grenzlinie zwischen dem Bewußtsein und den unbewußten neuronalen Prozessen - es ist kein Sprung zwischen "Subjekt" und "Objekt".