3.2. Die Genese des Begriffes "Wahrheit"
Wie entstand nun überhaupt die allgemeine Vorstellung von "Wahrheit"? Sie bildete sich
aus sozialen Gründen bei der Entstehung der ersten menschlichen Gesellschaften:
"Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an "Wahrheit" sein soll d. h. es wird eine gleichmässig
gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der
Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten
Male der Contrast von Wahrheit und Lüge: der Lügner gebraucht die gültigen Bezeichnun-gen,
die Worte, um das Unwirkliche als wirklich erscheinen zu machen".
Nietzsche fragt hier nach der Genealogie der Wahrheit - er wendet bereits die
genealogische Methode an, die später zu seinem ausdrücklichen Prinzip wurde. Die
Antwort auf die Frage "Woher Wahrheit?" lautet: "Sie stammt aus der Moral." Weil
gegenseitiges Lügen im menschlichen Zusammenleben schlimme Folgen hat, stellte man
die Pflicht zur Wahrheit auf,
die nach Nietzsches späterer Terminologie eigentlich
Wahrhaftigkeit heißen sollte. Dabei wird jedoch genau unterschieden zwischen solchen
Lügen, die schädlich, und solchen, die ungefährlich oder gar angenehm sind: Dichtern
und Priestern wird das Lügen, also das Erfinden von Epen oder Mythen, gestattet. Das
Kriterium ist dabei nicht eine bestimmte Darstellungsweise o. ä., sondern allein die
Frage, ob die jeweilige "Lüge" dem Leben schadet. Der traditionelle philosophische
Wahrheitsbegriff entwickelte sich erst in einem langsamen historischen Prozeß, wobei
Nietzsche nach wie vor Sokrates eine Schlüsselrolle zuweist: "Das Aussprechen der
Wahrheit um jeden Preis ist sokratisch."