3. Der erkenntnistheoretische Schlüsseltext "Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne"
3.1. Die menschliche Erkenntnis als Instrument im Überlebenskampf
Zwei Jahre nach der "Geburt der Tragödie" verfaßte Nietzsche einen Text mit dem Titel
"Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", der zu seinen Lebzeiten jedoch
nicht veröffentlicht wurde. Hier zeigt sich schon, daß Nietzsche den indisch-schopenhauerischen
Begriff des "Ur-Einen" jetzt verworfen hat.
"In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd
ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen
erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der "Weltgeschichte": aber
doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die
klugen Thiere mussten sterben.-"
Das Erkennen ist hochmütig und verlogen. "Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere
Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein
Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm
drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass
auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum
dieser Welt fühlt."
Eine klarere Absage an alle "höheren Wahrheiten" könnte man sich
gar nicht wünschen. Der Intellekt ist ein reines Mittel des Menschen, um im
Überlebenskampf gegen Raubtiere und ähnliche Gefahren bestehen zu können -allerdings
nicht zur "Naturbeherrschung", wie Habermas glaubt (der Begriff kommt in
"Wahrheit und Lüge" nicht vor, obwohl Habermas ihn in seiner Interpretation dieses
Textes in Anführungszeichen setzt und damit doch wohl als Zitat ausweisen will). Der
Mensch steht nur insofern im Gegensatz zur Natur, wie die Natur die ihn gefährdende
Umwelt ist, in der er überleben will. Das ändert jedoch nichts daran, daß der Mensch
selbst ein natürliches Wesen ist und deshalb "die Natur" nie "beherrschen" kann -stattdessen
wird er, wie Nietzsche
ausdrücklich schreibt, immer von der Natur
dominiert.