2.4. Nietzsches Wahrheitsbegriff in "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen "


In der Folgezeit beschließt Nietzsche offenbar, seine beiden Wahrheitsbegriffe, die in "Ueber das Pathos der Wahrheit" gemeinsam bzw. nacheinander behandelt werden, zu trennen. Den Heraklit-Teil übernimmt er fast wörtlich in seinen Text "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", der Anfang April 1873 abgeschlossen ist. Die Dämonenfabel und die damit verbundene kritische Auseinandersetzung mit der Iogischen Wahrheit übernimmt er wiederum zwei Monate später in "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873).
"Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" ist eine philosophiegeschichtliche Darstellung, in der Nietzsche die Entwicklung von Thales bis Anaxagoras behandelt. Von den neunzehn Kapiteln sind vier ausschließlich dem Heraklit gewidmet, der aber auch in den Folgekapiteln immer wieder genannt wird. Unverkennbar findet Heraklits Lehre von der Welt als Spiel Nietzsches ganze Sympathie, denn hierin erkennt er seine Kunstphilosophie wieder.
Hier ist nicht der Ort, das Thema "Nietzsche und Heraklit" zu untersuchen. Aber auch beim Problemfeld Erkenntnis und Wahrheit bei Nietzsche kann sein Verhältnis zu Heraklit nicht übergangen werden, denn Heraklit war die philosophische Identifikationsfigur für Nietzsche, noch mehr als Schopenhauer, zu dem es allen Lobpreisungen zum Trotz schon früh Differenzen gab. Gegen Heraklit findet sich bei Nietzsche nie ein Wort der Kritik - dessen Verherrlichung in "Ueber das Pathos der Wahrheit" ist bezeichnend, und noch in den Notizen des Jahres 1884 sowie in "Ecce Homo" nennt Nietzsche ihn unter seinen "Vorfahren" an erster Stelle.
In "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" bezeichnet Nietzsche mit dem Begriff der Intuition offenbar das, was er in den Notizen "Wahrheit aus Liebe" nennt. Die Intuition führte Heraklit zu zwei entscheidenden Verneinungen: 1. verneinte er den von seinem Vorgänger Anaximander aufgebrachten Unterschied zwischen einer physischen und einer metaphysischen Welt. 2. verneinte er dann, einen Schritt weitergehend, das Sein überhaupt. Anstelle des Seins sah Heraklit nichts als Werden, alles fließt, nur der menschliche Blick sieht feste Dinge in diesem Fluß, und nur die menschlichen Namen für diese Dinge geben ihnen den Anschein von Dauer.
Mit dieser "intuitiv gewonnenen Wahrheit" kann Heraklit sich der Logik gegenüber feindlich zeigen und der Vernunft widersprechen. Die Intuition umfaßt nach Nietzsche die gegenwärtige mannigfaltige Erfahrungswelt und die Bedingungen der Anschauung, Raum und Zeit. Die von Heraklit erkannte Relativität von Raum und Zeit ist "eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren, jedermann zugänglichen Anschaulichkeit und eben darum begrifflich und vemünftig sehr schwer zu erreichen." Für Nietzsche ist also eine Wahrheit, je mehr sie auf der Anschauung beruht, um so weniger durch Begriffe und Vernunft zu erfassen.
Die für Nietzsche bedeutendste Intuition des Heraklit, die "niemand mit dialektischem Spürsinn und gleichsam rechnend errathen" konnte, war die Metapher von der Welt als Spiel des Zeus. Hierin fand Nietzsche seine eigene Lehre von der Welt als ästhetischem Phänomen wieder: "Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld - und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich." Wenn die Welt nun ein Spiel des Aeon ist, so nimmt der Mensch darin keine bevorzugte Stellung ein: Hier haben wir den Schlüssel zu jenem irritirendem Perspektivenwechsel in "Ueber das Pathos der Wahrheit". Nun zeigt Nietzsche aber, daß diese Situation des Menschen kein Grund ist, in Verzweiflung zu versinken:
"Wenn man aber Heraklit die Frage vorrücken wollte: warum ist das Feuer nicht immer Feuer, warum ist es jetzt Wasser, jetzt Erde?, so würde er eben nur antworten 'es ist ein Spiel, nehmt's nicht zu pathetisch, und vor Allem nicht moralisch!' Heraklit beschreibt nur die vorhandne Welt und hat an ihr das beschauliche Wohlgefallen, mit dem der Künstler auf sein werdendes Werk schaut."
Im anschließenden Kapitel erscheint wieder der schon früher unter dem Titel "Ueber das Pathos der Wahrheit" verfaßte Text, hier allerdings ohne jene Dämonenfabel am Schluß. Interessant ist auch, daß Nietzsche jetzt die Formulierung "(Heraklits) Eigenliebe ist die Liebe zur Wahrheit - und eben diese Wahrheit sagt ihm, daß ihn die Unsterblichkeit der Menschheit brauche" weggelassen hat, vermutlich weil ihm Heraklits "Liebe zur Wahrheit" jetzt zu fragwürdig erschien. Dagegen hat Nietzsche die Formulierung "die Welt braucht ewig die Wahrheit" unverändert übernommen - es ist eben etwas grundverschiedenes, ob die Menschheit die Wahrheit braucht, oder ob Heraklit (bzw. Nietzsche) die Wahrheit liebt. Am Beginn des folgenden Kapitels betont Nietzsche dann noch einmal ausdrücklich, daß es sich bei der Wahrheit Heraklits um die intuitive, nicht um die "an der Strickleiter der Logik erkletterten Wahrheit" handelt.
Auch in den Parmenides-Kapiteln finden sich einige Ausführungen zur Wahrheit, denn Parmenides war es, der die "verhängnißvolle erste Kritik des Erkenntnißapparats" in die Welt setzte, von ihm stammt die Unterscheidung von Geist und Körper, die Nietzsche entschieden ablehnt. Alle Sinneswahmehmungen galten Parmenides als Schein, die Wahrheit suchte er dagegen in den allgemeinsten Abstraktionen, in leeren Worten, aus denen er ein "Gehäuse aus Spinnefäden" errichtete - eine Metapher, die in "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" wieder auftauchen wird.