4. Erkenntnis, Wissenschaft und Gerechtigkeit in den "Unzeitgemäßen Betrachtungen"

Im Sommer 1873 begann Nietzsche mit einer Reihe von Schriften, die er "Unzeitgemäße Betrachtungen" nannte und in denen er Polemik gegen aktuelle Strömungen der Kultur und Verehrung gegenüber seinen Vorbildern zum Ausdruck bringen wollte, wobei allerdings gerade in der Verehrung auch schon die erste Distanzierung deutlich wurde.
Die "Erste Unzeitgemäße" über David Friedrich Strauss kann hier übergangen werden, und auch die vierte mit dem Titel "Richard Wagner in Bayreuth" ist für die Fragestellung nicht relevant. Ganz anders jedoch die zweite und die dritte Unzeitgemäße Betrachtung, "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" und "Schopenhauer als Erzieher".

4.1. Wissenschaft und Gerechtigkeit in "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben"

Für die hier zu behandelnde Thematik ist in der Schrift "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (die Anfang 1874 erschien) vor allem Nietzsches Sicht der Wissenschaft interessant. Er ist ganz konsequent - nachdem sich "Wahrheit" für Nietzsche als bloßes "Heer von Metaphern" gezeigt hat, steht die Frage nach "objektiver Erkenntnis" durch die Wissenschaft gar nicht mehr zur Diskussion.
Nietzsches bekannte Dreiteilung der Historie in monumentalische, antiquarische und kritische Geschichtsschreibung orientiert sich allein an der Frage nach dem Nutzen oder Nachteil für das Leben - nur diese Frage kann für Nietzsche relevant sein, nicht die Frage nach objektiver Erkenntnis. Historie soll dem Menschen letztlich immer den Weg zur Tat weisen (wobei man annehmen kann, daß Nietzsche hier weniger an politische Taten als an solche gedacht hat, die direkt oder indirekt zur Entwicklung der Kultur beitragen), daher sind historische Studien, die den Menschen von der praktischen Tat abhalten, z. B. das Streben nach reiner historischer "Bildung", von großem Nachteil.