4.1.1. Nietzsches Begriff der Gerechtigkeit
Den Begriff der Wahrheit verknüpft Nietzsche nun mit dem der Gerechtigkeit - eine
durchaus legitime Verknüpfung, die in der Philosophie vielleicht ungewöhnlich (jedoch
nicht in der antiken Philosophie: siehe Platon), in der Justiz jedoch selbstverständlich ist:
In jeder Gerichtsverhandlung wird die Wahrheit gesucht, um die Gerechtigkeit
herzustellen. Allerdings wird auch ein Richter an die "Objektivität" der Fakten glauben
wollen - da ist Nietzsche ganz anderer Ansicht; Gerechtigkeit und Objektivität haben für
ihn nichts miteinander zu tun. Der Gerechte ist "das ehrwürdigste Exemplar der Gattung
Mensch",
ihm stellt Nietzsche den kalten Dämon der Erkenntnis gegenüber, der Furcht
statt Ehrfurcht um sich verbreitet. Während der Dämon die Menschlichkeit von sich
abstreift und nach übermenschlich reiner Erkenntnis strebt, ist der Gerechte bewußt
Mensch und leugnet nicht die menschlichen Grenzen, was zur Folge hat, "dass er in
jedem Augenblicke an sich selbst sein Menschenthum zu büssen hat und sich an einer
unmöglichen Tugend tragisch verzehrt".
Hier zeigt sich die Anknüpfung an Nietzsches
frühere Werke: Der Gerechte ist der Mensch der tragischen Erkenntnis. Seine Tragik
liegt darin, daß er einer Tugend, nämlich der Gerechtigkeit, nachstrebt, ohne sie je
erreichen zu können - der Gerechte trägt diesen Namen nicht, weil er die Gerechtigkeit
besäße, sondern weil er sie zu verwirklichen sucht, obwohl ihm dies nie vollständig
gelingen kann.
Der Gerechte will Wahrheit, jedoch nicht die folgenlose Wahrheit des Dämons, sondern
Wahrheit als ordnende und strafende Richterin. Er will sie auch "nicht als egoistischen
Besitz des Einzelnen,
sondern als die heilige Berechtigung, alle Grenzsteine egoistischer
Besitzthümer zu verrücken."
Was bedeutet dies für die Wissenschaft, um die es hier ja
eigentlich geht?