4.1.2. Die Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Objektivität

Objektivität ist dem Menschen unmöglich, denn darunter stellt man sich einen Zustand vor, in dem er frei von persönlichen Interessen das Objekt rein anschaut. Doch warum, fragt Nietzsche, sollte sich unter diesen Umständen das "Wesen der Dinge" offenbaren? Erwartet man ernsthaft, daß jetzt das menschliche Erkennen rein passiv, das Ding hingegen aktiv geworden wäre? Vielmehr ist der geschilderte Zustand gerade der entscheidende Moment der künstlerischen Kreativität, und man kann durch ihn bestenfalls eine künstlerische Wahrheit, nie jedoch objektive Wahrheit erreichen. Dabei wird der Begriff "objektive Wahrheit" von Nietzsche nicht verwendet, er wäre für ihn eine contradictio in adjecto. Wahrheit/Gerechtigkeit und Objektivität haben nichts miteinander zu tun.
Die schlimmste Verirrung, zu der das Streben nach der vermeintlichen Objektivität führt, ist die Annahme, gerade derjenige sei zur "objektiven" Darstellung der Geschichte berufen, den sie nichts angehe. Diese scheinbare Gleichgültigkeit des Historikers empört Nietzsche sehr, denn sie ist unglaubwürdig, unwahrhaftig, kann nur der Eitelkeit des Historikers entsprungen sein. Nietzsche mahnt deshalb zur Ehrlichkeit - niemand soll den Schein der Gerechtigkeit erzeugen wollen, der nicht wirklich zum Gerechten berufen ist. Es soll ja gar nicht jede Generation Richterin aller früheren Zeiten sein: "Wer zwingt euch zu richten?" Nur ein "seltener Geist", der selbst Großes vollbringt, kann der Geschichte Gerechtigkeit angedeihen lassen.