4.2.2. Der tragische Mensch und die Wahrhaftigkeit

Auch der Begriff der Wahrhaftigkeit findet sich in "Schopenhauer als Erzieher" wieder. Der Mensch der tragischen Erkenntnis ist demnach derjenige, der das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich nimmt. Er leidet, weil er innerhalb der Gesellschaft wie ein Mephistopheles erscheint, der stets verneint, und so wird er zwangsläufig zum Außenseiter. Seine Verneinung ist Schopenhauers Verneinung des Daseins - das bedeutet, alles Seiende, das überhaupt verneint werden kann (also alles Kontingente), ist auch wert, verneint zu werden, "und wahrhaftig sein heisst an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne Lüge ist." Nietzsche nennt als treibende Kraft des Wahrhaftigen hier ausdrücklich den Glauben an einen metaphysischen Sinn, an das Bestehen "eines andern und höhern Lebens". Auch auf Heraklit wird wieder angespielt, jedoch wird nun das Spiel des Aeon entschieden verneint und der Sinn der Wahrhaftigkeit darin gesehen, das ewige Werden endlich zu überwinden und in ein schopenhauerisches Nirwana einzugehen. Was Nietzsche hier noch auf dem Hintergrund einer Metaphysik verneinen will, wird er in seiner späteren Philosophie ausdrücklich bejahen - eine Konsequenz aus der Unhaltbarkeit jener Metaphysik, die Nietzsche schon bald erkannte.

4.2.3. Die allzumenschlichen Antriebe zur Wissenschaft

Bei der Betrachtung des wissenschaftlichen Gelehrten kommt Nietzsche dann auf die Frage zu sprechen, die er schon in "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" gestellt hatte: Woher stammt der Trieb zur Wahrheit? Seine Antwort lautet jetzt etwas anders als in dem früheren Text - es kann sich für ihn jetzt nur noch um eine "angebliche" Wahrheit handeln, "denn wie sollte es überhaupt einen Trieb nach der kalten, reinen, folgenlosen Erkenntnis geben können!" Stattdessen verbirgt der Gelehrte unter der Maske des Wahrheitstriebes ganz andere, weniger edle Antriebe; Nietzsche unterscheidet vier Hauptantriebe und dreizehn weniger regelmäßige Antriebe:
1. die Neugier, die intellektuelle Abenteuer sucht
2. der dialektische Spieltrieb
3. der agonale Trieb zum Widerspruch
4. die Untertänigkeit gegen herrschende Personen und Institutionen (die mit ihnen genehmen "Wahrheiten" erfreut werden)

Und außerdem die weniger regelmäßigen Antriebe:
1. Biederkeit, die Ablehnung des Neuen
2. Kurzsichtigkeit - das Nahe wird scharf gesehen, aber das Ferne und Ganze kann nicht erkannt werden
3. Nüchternheit und Gewöhnlichkeit der Natur, wodurch man befähigt wird, das Gewöhnliche zu verstehen, aber nicht das Ungewöhnliche
4. Gefühlsarmut, dadurch Unfähigkeit zum Leiden an der Erkenntnis
5. geringe Selbstachtung, daher Bereitschaft zu jeder Aufopferung
6. Treue gegen die Lehrer
7. gewohnheitsmäßiges Weitergehen auf dem einmal eingeschlagenen Weg
8. Flucht vor Langeweile
9. Broterwerb
10. Achtung vor den Kollegen und Furcht vor ihrer Mißachtung
11. Eitelkeit
12. Spieltrieb, Vergnügen am Lösen wissenschaftlicher "Knötchen", ohne zu große Anstrengung
13. Trieb nach Gerechtigkeit

Mit diesem letzten Punkt der Aufzählung ist Nietzsche zu dem einzigen gelangt, den er hochachtet, wie schon in "Vom Nutzen und Nachteil der Historie" deutlich wurde. Den Trieb nach Gerechtigkeit wünscht er häufiger zu finden, denn er allein könnte den Gelehrten verwandeln und aus der Gewöhnlichkeit herausheben. Der Gelehrte soll zum "wirklichen Menschen" werden und die Dinge wie zum ersten Mal sehen, anstatt zwischen sich und die Dinge Begriffe, Meinungen, Bücher treten zu lassen. Hier beginnt sich bereits Nietzsches späterer "Perspektivismus" abzuzeichnen.