4.2. Wahrheit und Wissenschaft in "Schopenhauer als Erzieher"

4.2.1. Wahrheit der Kunst und Wahrheit der Professoren

Auch in der dritten "Unzeitgemäßen" vom Oktober 1874 fragt Nietzsche nach dem Begriff der Wahrheit. Er stellt die Universitätsprofessoren gegen die Künstler und bemerkt, daß letztere kühner und ehrlicher leben würden: Das künstlerische Genie trete in Widerspruch zu den bestehenden Ordnungen, wenn es die "höhere Ordnung und Wahrheit, die in ihm lebt", zum Ausdruck bringt. Die "Wahrheit" der Professoren dagegen sei bequem, harmlos, keine Gefahr für die gegenwärtige Ordnung - sie beteuert ausdrücklich, nur "reine Wissenschaft", und damit völlig ohne Konsequenzen zu sein. Nietzsches Kritik an "der Wissenschaft" richtet sich, wie sich hier zeigt, nur gegen eine bestimmte Erscheinungsform der Wissenschaft, nämlich gegen eine, im vermeintlichen Streben nach "Objektivität" um sich selbst kreisende, sich isolierende Wissenschaft, deren Ergebnisse keinerlei Folgen für die Gesellschaft und noch nicht einmal für das Leben der Wissenschaftler selbst haben.
Wie kann man sich nun jene "künstlerische Wahrheit" vorstellen, die für Nietzsche noch möglich ist? Er weiß genau, daß nach der kantischen Philosophie jedem Denker die Gefahr der "Verzweiflung an der Wahrheit" droht. Ausdrücklich führt er Heinrich von Kleist als Beispiel an. Diese Verzweiflung an der Wahrheit ist für Nietzsche noch die positivere Reaktion auf Kant, die den edleren Geistern vorbehalten bleibt - als gewöhnliche Folge sieht er einen sich ausbreitenden, destruktiven Skeptizismus und Relativismus kommen. Doch es gibt einen Ausweg, den Nietzsche hier noch nach dem Idol Schopenhauer benennen will: Den Weg über die Verzweiflung an der Wahrheit hinaus "zur Höhe der tragischen Betrachtung". Man darf wohl diese "tragische Betrachtung" mit Nietzsches früherem Begriff der tragischen Erkenntnis gleichsetzen. Hier erläutert Nietzsche den Tragisch-Betrachtenden als jemanden, der das Leben als ganzes anschaut und als ganzes deutet - er findet in seinem eigenen Leben das Bild für das Ganze, und aus dem Ganzen erkennt er wiederum den Sinn seines eigenen Lebens. Die tragische Erkenntnis ist demnach strikt individuell, und nicht übertragbar, was erklärt, daß sich bei Nietzsche keine eindeutige Definition dafür findet.