2.2.2. Der Philosoph als Interpret wissenschaftlicher Erkenntnisse

Neben der Kritk an der zeitgenössischen Wissenschaft begann Nietzsche mehr und mehr nach der Genese von Empfindung, Gedächtnis und Bewußtsein zu fragen. Einige der Notizen, die Nietzsche in diesem Zusammenhang niederschrieb, wurden dann in "Über Wahrheit und Lüge" wiederaufgegriffen, weshalb auf sie, um Wiederholungen zu vermeiden, erst in einem späteren Kapitel eingegangen wird. Zunächst sollen Nietzsches Aufzeichnungen über das "Bewußtsein" betrachtet werden. In seinen Notizen setzt er sich intensiv mit den Lehren Hermann von Helmholtz' auseinander, dessen "Handbuch der Physiologischen Optik" er am 5. April 1873 aus der Baseler Universitätsbibliothek auslieh, nachdem es bereits im Vorjahr zweimal von seinem Freund und Mitbewohner Romundt ausgeliehen worden war und damit auch Nietzsche zur Verfügung gestanden hatte. In den Nachlaß-Notizen über die Genese der Empfindung und des Bewußtseins taucht mehrmals Helmholtz' Konzeption der "unbewußten Schlüsse" auf. Es liegt also nahe, auch in den übrigen Notizen, die sich auf physiologische Fragen beziehen, den Einfluß Helmholtz' zu vermuten. Worum geht es nun in diesen Notizen?


2.2.2.1. Nietzsches Thesen zur Empfindung

Es geht zunächst um das Problem der "Empfindung". Nietzsche notiert, daß Empfindung bereits auf der atomaren Ebene vorhanden sei, denn ohne sie könne überhaupt nichts aufeinander einwirken. Es gebe ein Durcheinander von Empfindungszentren unterschiedlicher Größe, die Nietzsche "Wille" nennt. (Hier erkennen wir schon in nuce Nietzsches späteres monadologisches Modell des "Willens zur Macht".) Solche Empfindungen verfestigen sich zu blitzschnellen Reflexbewegungen, das sind die Schlußfolgerungen, d. h. die regelmäßige Abfolge der Reflexbewegungen erzeugt das Gefühl der Kausalität. Das Gedächtnis speichert diese Reflexbewegungen. Erst wenn die Reflexbewegungen sich so verfestigen, daß eine Kausalitätsempfindung entsteht, bildet sich auch das Bewußtsein. Das Gedächtnis geht dem Bewußtsein also voraus. Als Beispiel führt Nietzsche die Mimose an: Sie habe Gedächtnis (also gespeicherte Reflexbewegungen) aber kein Bewußtsein. (Das Beispiel ist allerdings fragwürdig: Kann wirklich gesagt werden, die Mimose speichere die Reflexbewegungen?)