2.2. Der Philosoph als Mittler zwischen Wissenschaft und Metaphysik

Ab 1873 betont Nietzsche immer mehr die aufklärerische Bedeutung der Philosophie - diese bedeute ein "Reinigen von verworrenen und abergläubischen Vorstellungen". Nietzsche wendet sich jedoch damit nicht generell von seinen früheren Positionen ab, vielmehr sieht er den Philosophen zwischen Wissenschaft und Religion gestellt und, janusköpfig, nach beiden Seiten hin wirken, und zwar soll er die Wissenschaft entmaterialisieren, die Religion entzaubern. Wenn Nietzsche nun den Aspekt der Entzauberung stärker betont, so wird damit die Entmaterialisierung nicht eingeschränkt, sondern nur vorläufig zurückgestellt.


2.2.1. Nietzsches Neuformulierung der Wissenschaftskritik

Nietzsche sieht zwei Hindernisse in der Wissenschaft, die die Verwirklichung seines Ideals von Wissenschaft hemmen: 1. die mystische Verknüpfung unzusammenhängender Dinge; 2. die zersplitternde Trennung zusammengehöriger Dinge. Demzufolge ist nicht alle Wissenschaft per se abzulehnen, ist auch nicht ihr Wert immer schon fragwürdig - es kommt auf die Methode an. Die Methode soll die wissenschaftliche Erkenntnis eines organischen Ganzen möglich machen (bei dieser Betonung des Organischen dürfte Nietzsche an die naturwissenschaftlichen Studien Goethes gedacht haben, denn in den anschließenden Notizen zitiert er Goethe mehrfach). Erneut fordert er daher die Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst: Um zu jener idealen organisch-ganzheitlichen Erkenntnis zu gelangen, müsse der Mensch sich der Vernunft und der Intuition, der gewagten Phantasie und der mathematischen Genauigkeit bedienen. Das Ergebnis wäre ein vollkommen neuer Typus des Wissenschaftlers.
Auf dieser Grundlage übt Nietzsche starke Kritik am wissenschaftlichen Menschen: Vor allem wirft er dem zeitgenössischen Wissenschaftler vor, das Dasein nicht als eine heillose, bedenkliche Sache anzusehen, daß er also glaubt, das Dasein verbessern zu können. Die pessimistische Haltung der "Geburt der Tragödie" wird hier aufrechterhalten, zugleich wird jedoch auch Nietzsches Glaube an die Möglichkeit einer "tragischen" Wissenschaft deutlich, was wiederum die Interpretation der "Geburt der Tragödie" als einer nicht einseitig anti-wissenschaftlichen Schrift stützt. Nietzsche fügt seiner früheren Kritik nun einige Vorwürfe hinzu, die auf konkretere Merkmale des Wissenschaftlers zielen: Er fühlt sich in Hast, als ob die Wissenschaft eine Fabrik wäre; er "arbeitet", anstatt sich zu beschäftigen und auch nach rechts und links zu sehen. Wissenschaft ist unnützes Zeug, wenn der Mensch sie so wie die notwendige Alltagsarbeit betreibt. Nietzsche kritisiert hier also den beschränkten Horizont des zeitgenössischen Wissenschaftlers, der sich (wie es später im "Zarathustra" heißt) auf das Hirn des Blutegels spezialisiert und es verschmäht, seinen Blick darüber hinauszurichten. Diese wissenschaftskritischen Gedanken, die hier in den Notizen erstmals formuliert werden und die Nietzsche einige Monate später in "Vom Nutzen und Nachteil der Historie" weiter ausführt, wird er Zeit seines (tätigen) Lebens aufrechterhalten.

Doch obwohl sich Nietzsches spätere philosophische Haltung hier schon klar abzeichnet, enthalten seine Notizen der Jahre 1872/73 auch noch eindeutige Bekenntnisse zur Metaphysik: "Das Wahrste in dieser Welt - die Liebe Religion [sic!] und Kunst." Nietzsches Position in dieser Zeit ist nicht festzulegen, sie schwankt hin und her, einerseits fühlt er sich zunehmend von Aufklärung und Entzauberung hingezogen, andererseits will er (wohl auch unter dem Einfluß Wagners) von der lieben Religion noch nicht lassen. Man kann hier in Nietzsches Wissenschaftskritik also zwei verschieden Perspektiven unterscheiden: die Perspektive der "tragischen Erkenntnis" und die metaphysische Perspektive; andererseits steht neben der Wissenschaftskritik nun auch Nietzsches intensive Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, die jetzt genauer betrachtet werden soll.