2.1.2 Das Verhältnis von tragischer Erkenntnis und Notwendigkeit der Illusion
Ein weiterer Begriff, der für Nietzsche große Bedeutung gewinnen sollte, taucht hier
auf, der Begriff der Notwendigkeit, hier noch in der Formulierung "was noth tut".
Der Philosoph soll das Notwendige erkennen, der Künstler soll es schaffen: so
arbeiten beide Hand in Hand. Mit dem "Notwendigen" meint Nietzsche allerdings
nicht (zumindest an dieser Stelle nicht) die kleinen Mühen des Alltags, sondern das
ewige, allgemeine Leid. Die griechischen Philosophen hätten "jeder eine Noth
ausgedrückt", und dort, in diese Lücke hinein ihr System gebaut. Eine Not ist also
eine Lücke, ein Mangel, und davon gibt oder gab es offenbar eine Vielzahl, in die
sich ganz unterschiedliche Systeme einbauen lassen. "Notwendigkeit" ist der
Sammelbegriff für diese unterschiedlichen Nöte.
Nietzsche bringt Kant ins Spiel, nachdem er von der "Nothwendigkeit jeder wahren
Kultur"
gesprochen hat: Auch Kant sei von einer "Kulturnoth"
getrieben worden,
als er das Wissen aufheben wollte, um zum Glauben Platz zu machen - die
Bedrohung des Glaubens durch das Wissen war die Not, die er empfand. Ähnlich
geht es dem Philosophen der tragischen Erkenntnis: "Er empfindet den weggezogenen
Boden der Metaphysik tragisch",
und wie die griechischen Philosophen baut er
in diese Lücke etwas neues - ein neues Leben, das der Kunst wieder ihr Recht gibt.
Der tragische Philosoph ist jedoch kein Skeptiker. Nachdem sein Erkenntnistrieb bis
an die Grenzen gelangt war und sich dort gegen sich selbst kehrte (hier knüpft
Nietzsche wieder direkt an die "Geburt der Tragödie" an), kritisiert er nun das
Wissen und bejaht die Illusion. Hierin liegt seine Tragik begründet.
Kritik des Wissens bedeutet: der Philosoph betont das Relative aller Erkenntnis und
das Anthropomorphe aller Metaphysik.
Mit dem Durchbruch des wissenschaftlichen
Denkens wurde die Sicherheit das oberste Kriterium aller Erkenntnis: je
sicherer etwas gewußt wurde, desto besser. Nietzsche kritisiert daran den Verlust
eines anderen, viel wichtigeren Kriteriums, nämlich der Unentbehrlichkeit für das
menschliche Leben. Viele "sichere" Erkenntnisse sind durchaus entbehrlich,
andererseits gibt es unsichere Erkenntnisse und sogar Illusionen, die unentbehrlich
sind. Die entfesselte Wissenschaft muß nun gebändigt werden durch die Kunst, die
wieder die Notwendigkeit der Illusion erweisen soll.
Was ist mit der "Notwendigkeit der Illusion" gemeint? Nietzsche schreibt, eine
Illusion, an die geglaubt wird, habe einen ebensolchen Wert für das Leben wie eine
"Wahrheit". Zwar brauche es "den Glauben an die Wahrheit, aber es genügt dann die
Illusion, d. h. die 'Wahrheiten' beweisen sich durch ihre Wirkungen, nicht durch
logische Beweise, Beweise der Kraft."
Die Logik ist demnach nur entwickelt
worden als Waffe im Kampf zwischen "Wahrheiten", sie ist jedoch nur eine Waffe,
und keine richtende Instanz über den Kämpfenden. Ob "Illusion" oder "Wahrheit",
entscheidend ist allein ihre Kraft, und die wird gemessen am Wert für das Leben.
Illusionen sind deshalb notwendig, weil das menschliche Bewußtsein mit nichts
anderem als Illusionen arbeitet. Das Bewußtsein bewegt sich nur auf der Oberfläche,
alle physikalischen und chemischen Vorgänge, die den menschlichen Organismus
fundamental bestimmen, sind ihm verborgen. Da unser Bewußtsein und unsere
Sinnesorgane überhaupt nicht darauf eingerichtet sind, "Wahrheiten" zu erkennen,
leben wir in einer permanenten Illusion. Nietzsche nennt als Beispiel das Auge: Wir
haben unsere Augen dazu erzogen, bestimmte Formen wahrzunehmen, bereits das ist
ein Akt der Kunst.
Die Aufgabe des Philosophen ist es, diese in der Natur
vorliegende Unvermeidlichkeit der Illusion aufzudecken und damit dem
wissenschaftlichen Anspruch der illusionslosen Wahrheitssuche entgegenzutreten.
Dabei soll nicht jegliches Wissen verworfen werden, sondern Nietzsche will, daß
eine Wahl getroffen wird, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse dem Leben und
der Kultur nützlich sind. Ziel soll die Entwicklung einer großen Kultur sein, nötig
dazu sind Vorbilder, die großen Individuen der Geschichte, also ist ein Wissen über
diese Individuen erforderlich. Dieses Wissen soll jedoch nicht wahllos sein, denn es
gibt immer Details aus dem Leben eines Menschen, die der Vorbildfunktion eher
abträglich sind. Solche Dinge sind zu verschleiern,
so daß unser Vorbild letztlich
eine Illusion ist - aber diese Illusion ist die Grundlage der Kultur.