2. Nietzsches Nachlaß-Schriften der frühen siebziger Jahre

Nietzsche beendete die Arbeit an der "Geburt der Tragödie" im Dezember 1871, das Buch erschien dann Anfang Januar 1872. In der Folgezeit beschäftigte Nietzsche sich zunächst mit pädagogischen Fragen, er hielt in Basel seine Vorträge "Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten", auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, da erkenntnistheoretische Themen dort keine Rolle spielen - es ist jedoch festzuhalten, daß Nietzsche sich gleich im Anschluß an seine Forderung nach "tragischer Erkenntnis" der Pädagogik widmete.

2.1. Neubewertung des Verhältnisses von Kunst und Erkenntnis
2.1.1. Die Frage nach dem Wert und Ziel der Erkenntnis

Im Sommer 1872 beginnt Nietzsche die umfangreichen Notizen, die in der KSA 7 die Nummer 19 tragen, und in denen sich "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" und "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" ankündigen. Gleich zu Beginn thematisiert Nietzsche hier die Problematik der Gemeinsamkeit des Künstlers und des Philosophen - "in einer rechten Höhe kommt alles zusammen und über eins". Während er also noch ein halbes Jahr zuvor den Gegensatz von Kunst und Wissenschaft betonte, unterstreicht er nun die Eintracht von Kunst und Philosophie. Durch sie baut der Mensch an einer "Unsterblichkeit des Intellekts", das ist jenes "Netz des Gedankens", die "Wissenspyramide der Gegenwart" aus der "Geburt der Tragödie", die als Begriffsdom aus Spinnenfäden in "Über Wahrheit und Lüge" wieder auftauchen wird.

Nun wird jene Unsterblichkeit des Intellekts von Nietzsche gleich relativiert, denn "der Wille allein ist unsterblich" (Nietzsche verwendet hier noch schopenhauerische Terminologie), und verglichen damit ist die Unsterblichkeit des Intellekts, die zu ihrem Bestand auf Menschenhirne angewiesen ist, nur "elend" zu nennen. Diese Überlegung führt Nietzsche gleich zu einem schwerwiegenden Problem: "Wie kann aber das Genie zugleich das höchste Ziel der Natur sein!" Wenn der menschliche Intellekt in Relation zur Natur gesehen nur elend erscheint, wäre es ein Widerspruch, das Genie als höchstes Ziel der Natur zu betrachten, wozu Nietzsche eigentlich neigt. Er stößt hier auf diesen Widerspruch, ohne ihn auflösen zu können (es handelt sich, woran nochmals erinnert sei, um nicht zur Veröffentlichung bestimmte Notizen).
Daran anschließend spricht sich Nietzsche gegen die "ikonische Geschichtsschreibung" aus (die offenbar identisch ist mit der später in "Vom Nutzen und Nachteil der Historie" sogenannten "antiquarischen Geschichtsschreibung"). Die Philosophie habe die Aufgabe, "nur von dem Großen und Einzigen zu reden, von dem Vorbild", also eine Auswahl zu treffen. Sie solle mit Bewußtsein die unbewußte Aufgabe der Kunst unterstützen, indem sie die "verzeitlichenden Elemente" bekämpft, womit Nietzsche jene aktuellen, zeitbezogenen Fragen meint, die keine Berührung mit der Unsterblichkeit des Intellekts haben. Deshalb müsse der Philosoph "das Problem des Daseins, überhaupt die ewigen Probleme" betonen. Es findet sich hier in Nietzsches philosophischer Entwicklung verglichen mit der "Geburt der Tragödie" eine deutliche Umgruppierung der Gegensätze: dort standen sich Kunst und Erkenntnis gegenüber, hier stehen nun Kunst und Philosophie gemeinsam auf der einen Seite gegen ikonische Geschichtsschreibung und Naturwissenschaft auf der anderen.

Nietzsche spricht bereits jetzt das Thema an, das ihn in den späten 80er Jahren als das "Problem der décadence" beschäftigen sollte: "Der maaßlose unwählerische Erkenntnißtrieb, mit historischem Hintergrunde, ist ein Zeichen, daß das Leben alt geworden ist". Damit erhellt er nun, was in der "Geburt der Tragödie" merkwürdig dunkel blieb - den Grund für jenen "Selbstmord" der griechischen Tragödie. Später wird Nietzsche in der "Götzendämmerung" Sokrates und Euripides als Musterbeispiele der "décadence" benennen. Damit, ebenso wie mit dem früheren Ausdruck "altgewordenes Leben", meint er ein Dasein, das nicht mehr auf intuitive Weise gelenkt werden kann, weil die menschlichen "Instinkte" oder "Triebe" zu schwach geworden sind. Dagegen setzt Nietzsche jene Verbindung von Kunst und Philosophie, die er, hier wieder direkt an die "Geburt der Tragödie" anknüpfend, als "tragische Erkenntniß" bezeichnet. Diese tragische Erkenntnis soll Historie und Naturwissenschaft kontrollieren:

"Es handelt sich nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine Beherrschung. Sie hängt nämlich in allen ihren Zielen und Methoden durch und durch ab von philosophischen Ansichten, vergißt dies aber leicht. Die beherrschende Philosophie hat aber auch das Problem zu bedenken, bis zu welchem Grade die Wissenschaft wachsen darf: sie hat den Werth zu bestimmen!"

Wissenschaft ist nicht Selbstzweck, ist kein Wert an sich, kann auch keine Werte setzen, sondern sie muß sich in ein übergeordnetes Wertesystem fügen. Auf die Wert-losigkeit der Wissenschaft bezieht Nietzsche sich auch, wenn er feststellt, in der Wissenschaft gebe es, im Unterschied zur Philosophie, kein groß und klein. Es bedarf demnach einer höheren Instanz, die Werte schafft und damit dem wahllosen Erkenntnistrieb Regeln gibt - dies war früher die Religion, nun setzt Nietzsche die "tragische Erkenntnis" an diese Stelle.