1.6.2. Von der griechischen Tragödie zur tragischen Erkenntnis

Zwar macht Nietzsche einerseits den Sokratismus für den Untergang der tragischen Kultur verantwortlich, andererseits schreibt er jedoch mehr als einmal: "Die griechische Tragödie (...) starb durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch". Demnach wäre Sokrates also nicht der Täter, sondern nur das Werkzeug gewesen, mit dem die tragische Kultur der Griechen sich selbst vernichtete. Der Selbstmord der Tragödie war notwendig, um den Selbstmord der Menschheit zu verhindern. Was war aber jener unlösbare Konflikt, auf den Nietzsche sich bezieht?

Der Todeskampf der Tragödie zeigt sich für Nietzsche im Werk des Euripides. In der "Geburt der Tragödie" erscheint Euripides in keinem guten Licht - er wird direkt für den Untergang der Tragödie verantwortlich gemacht, und an keiner Stelle wird deutlich, daß er sich in einem unlösbaren Konflikt befunden habe. Interessanterweise findet sich in Nietzsches Nachlaß-Schrift "Socrates und die Tragoedie", einer Vorstufe der "Geburt der Tragödie", ein etwas anderes Bild: "Was man aber auch für böse Einwirkungen von ihm ableitet, immer ist dies festzuhalten, daß Euripides mit bestem Wissen und Gewissen handelte und sein ganzes Leben in großartiger Weise einem Ideale geopfert hat." Dieses Ideal war der Kampf gegen den Verfall der Tragödie, den er ausgerechnet an Aischylos und Sophokles zu entdecken glaubte. Euripides vertrat eine rationalistische Ästhetik, deren Hauptregel besagte, in der Kunst müsse alles verständig sein, damit alles verstanden werden könne - hier stimmte er also mit Sokrates vollkommen überein. Damit geriet er in den Gegensatz zu seinen Vorgängern, und wenn Sophokles über Aischylos sagte, er tue das Rechte, wenn auch unbewußt, dann hätte Euripides nach Nietzsche entgegnet, weil Aischylos unbewußt schaffe, tue er Unrecht.

Aber kann es ein Vorwurf gegen Euripides sein, daß er keine Tragödien im Stile des Aischylos mehr geschrieben hat? Nein, sagt Nietzsche, denn das konnte er nicht. Das tragische Zeitalter war vorüber, Euripides war vom Sokratismus infiziert, und das bedeutet, er mußte die älteren Tragödien mit der Vernunft begreifen wollen, er konnte nicht mehr unbewußt, intuitiv schaffen. Der unlösbare Konflikt lag darin begründet, daß jener sokratische Trieb, der sich gegen die Instinkte richtete, im Grunde auch ein Instinkt war - "in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung antreffen". Der Sokratismus war nur nicht in der Lage, den Blick gegen sich selbst zu richten und sich damit als Instinkt zu erkennen, und so forderten Sokrates und Euripides, alles dem Bewußtsein unterzuordnen, ohne zu erkennen, daß auch eben jene Forderung einem Instinkt entsprang, den sie nicht bewußt rechtfertigen konnten. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß es zu jenem sokrati-schen Trieb, eben weil er eine instinktive Kraft war, keine Alternative gab.

Während die Tragödie den Pessimismus vertrat, stand Sokrates für den Optimismus, er glaubte, mit Hilfe der Erkenntnis das Dasein korrigieren zu können. Unter dieser Voraussetzung ist klar, daß es eine sokratische Tragödie nicht geben konnte, daß der Sokratismus das Ende des tragischen Zeitalters bedeuten mußte. Jetzt läßt sich Nietz-sches Gedankengang in Kap. 15 nachvollziehen: Wenn der Mensch nicht all seine Kräfte in Kriegen und Völkerwanderungen verbrauchen (und damit letztendlich das Menschengeschlecht vernichten) will, muß er sie auf andere Ziele richten, und nach dem unvermeidlichen Sieg des Sokratismus konnte dieses Ziel nur noch die Erkenntnis sein.

Nietzsche bleibt jedoch eine Hoffnung für die Kunst. Nicht die Wiederherstellung der griechischen Tragödie - sie ist unmöglich. Möglich ist dagegen die tragische Erkenntnis. Sie wird erreicht, wenn die Wissenschaft bis an ihre Grenze getrieben wird, wo die Logik sich "um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst", wo der Optimismus scheitert und in Pessimismus umschlägt. An dieser Stelle "bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht." Das Symbol für diese neue Form der Erkenntnis ist der musiktreibende Sokrates. Obwohl er sich nur von der Vernunft leiten lassen wollte, verfolgte den Sokrates ein beunruhigender Traum, in dem eine Stimme ihn mahnte: "Sokrates, treibe Musik!" Er versuchte, dieses Phänomen zu vergessen und redete sich ein, seine Philosophie sei ja die höchste Musenkunst; erst im Gefängnis gibt er endlich der Stimme nach und dichtet einige bescheidene Verse. Hätte er die Stimme nicht verdrängt, sondern der Kunst ein gleiches Recht wie der Erkenntnis eingeräumt, so wäre er zur tragischen Erkenntnis durchgedrungen.
Jener "musiktreibende Sokrates" ist als Nietzsches philosophisches Ideal nicht zu unterschätzen. In der "Geburt der Tragödie" versucht Nietzsche noch, Richard Wagner als Inkarnation dieses Ideals darzustellen, doch er sah schon bald seinen Irrtum ein: Wagner war zwar musiktreibend, aber leider kein Sokrates. Aber dennoch blieb Nietzsche bis in seine späten Jahre dem Ideal treu - jetzt wollte er selbst den musiktreibenden Sokrates verkörpern.