1.6. Das Dilemma der Wissenschaft in der "Geburt der Tragödie"
1.6.1. Die tragische Situation des Sokrates

Zur Frage der Erkenntnistheorie gehört auch die Frage: Wie beurteilte Nietzsche die Wissenschaft? In der "Geburt der Tragödie" ist es der wissenschaftliche Mensch Sokrates, der als Antipode der Tragödie den Untergang des echten Hellenentums einläutet. Es ist hier nicht von Interesse, ob Nietzsche tatsächlich den historischen Sokrates gemeint hat, wie er sich überhaupt zu Sokrates stellte, und was dergleichen Fragen mehr sind. Der Name "Sokrates" kann einfach als Symbol für den wissenschaftlichen Geist gelesen werden, der im Griechenland des 5. vorchristlichen Jahrhunderts entstand.

Nietzsches Vorwurf an jenen wissenschaftlichen "Sokrates" lautet: Er habe das Verlangen nach allumfassendem Wissen gegen den "Instinkt" gestellt - wobei das Wort "Instinkt" hier recht unglücklich gewählt ist. Nietzsche meint damit all das, was seit Freud das "Unbewußte" genannt wird, und nicht etwa nur angeborene animalische Triebe, die die Nahrungsaufnahme etc. kontrollieren.
Sokrates sagte, er wisse, daß er nichts wisse. In Athen unterhielt er sich mit zahlreichen Menschen: Politikern, Künstlern, Rhetorikern und vielen anderen, die alle durchaus glaubten, etwas zu wissen - doch es zeigte sich dann, daß sie alle nicht in der Lage waren, dieses Wissen zu formulieren. "Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben." Für Sokrates war es ein Vorwurf, wenn jemand eine Tätigkeit ausübte, ohne sich darüber bewußt Rechenschaft ablegen zu können. Nur die formulierbaren Erkenntnisse des bewußten Denkens galten ihm als akzeptabel, alles andere als verwerflich. Damit verkörpert Sokrates einen neuen Menschentypus, der die traditionelle griechische Kunst und Ethik ablehnt. Denn das ursprüngliche griechische Wesen (das sich für Nietzsche "als Homer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus" verkörpert) legte gerade keinen Wert auf eine solche Rechenschaft vor dem Bewußtsein, sondern schuf künstlerische Werke und handelte aus der Intuition heraus.

Dennoch wäre es ein Mißverständnis, Nietzsche auf eine Parteinahme gegen Sokrates und gegen die Wissenschaft festzulegen, denn in Kapitel 15 formuliert er sehr irritierende Gedanken, die mit der vorangegangenen Sokrateskritik zunächst unvereinbar scheinen:
"wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er (...) als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt".

Diese Sätze klingen verblüffend. Schien Nietzsche nicht vorher den Untergang der griechischen Tragödie, für den er den Sokratismus verantwortlich machte, eindeutig zu bedauern? Wie kann er dann andererseits feststellen, daß es zum Selbstmord des Menschengeschlechtes geführt hätte, wenn der Sokratismus nicht in die Welt getreten wäre?
Eine noch größere Irritation für jeden, der von Nietzsches "Wissenschaftsfeindlichkeit" in der "Geburt der Tragödie" ausgeht, bildet der Schluß des zitierten Absatzes, wo Nietzsche schreibt, jene grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid wäre überall dort vorhanden, "wo nicht die Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pesthauchs erschienen ist." Hier wird nun die Wissenschaft als eine Form der Kunst bezeichnet - wie reimt sich das zusammen mit dem sonst in der "Geburt der Tragödie" immer betonten Gegensatz zwischen Kunst und Wissenschaft?