1.5. Die Bedeutung der Musik als dionysisches Symbol
Schon in seiner Kindheit war Musik für Nietzsche
von größter Bedeutung. Bereits als siebzehnjähriger Schüler
arbeitete er an einer Untersuchung "Ueber das Wesen der Musik", in der bereits
Gedanken der "Geburt der Tragödie" anklingen:
"Unser Gefühlsleben
ist uns selbst am wenigsten klar; daraus daß wir selbst die Saiten
die durch die Musik in uns erklingen, nicht ihrem Tone nach erkennen, sondern
blos ihren Schwingungen nach fühlen."
Das Musikverständnis "ist
aber weder ein Gefühl noch ein Erkennen, sondern ein dumpfes Ahnen des
Göttlichen. Durch Bewegung entsteht dies Gefühl, wo aus der Form
plötzlich der Himmelsfunke herausschlägt". Das ist ein Kerngedanke
der "Geburt der Tragödie", auf den später noch näher eingegangen
werden soll.
In dieser frühen Schrift findet sich auch schon die These,
daß die Sprache ursprünglich aus der Musik entstanden sei: In
ihren Anfängen hätten die Menschen ihre Gefühle durch den
Ton ausgedrückt, und diese Ausdrucksform sei demnach zugleich Musik
uns Sprache gewesen. Erst allmählich habe sich die Trennung vollzogen,
indem die Menschen Begriffe entwickelten.
An das Thema Musik und Sprache
knüpfen sich Nietzsches Überlegungen zum Symbolcharakter der Musik.
Was bedeutet hier Nietzsches Begriff des Symbols?
"Im dionysischen Dithyrambus
wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten
gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung
des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur.
Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue
Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht
nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle,
alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen
symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie,
plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen
Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung
angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will:
der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!"
Die "alte" Welt der Symbole, der Nietzsche hier jene "neue Welt" entgegenstellt,
ist die Welt der Sprache - sie ist die Symbolik von Mund, Gesicht und Wort
(hier klingt schon "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne" an). Die neue Symbolik umfaßt dagegen den ganzen menschlichen
Körper, indem die Musik zum Tanz anregt. Darüber hinaus wird die
Musik nicht nur als inneres, auf das Individuum bezogenes Phänomen erfahren,
sondern als eine Kraft, die mit ihren Schwingungen den ganzen Raum erfüllt,
und zugleich das im Raum befindliche Individuum. So erlebt der Mensch seine
Selbstentäußerung, die Grenzen seiner Individualität zerfließen.
Durch diese Erfahrung erkennt er, was sich in der Musik symbolisch ausdrückt:
das Wesen der Natur.
Natürlich ist die Musik nicht identisch mit dem
Wesen der Natur, bzw. dem schopenhauerischen Willen, sondern sie ist eine
Erscheinung des Willens. Erscheinung aber nicht im Sinne einer Objektivation
(denn Objektivation des Willens ist für Schopenhauer die ganze sinnliche
Welt), sondern im Sinne eines Symbols - womit Nietzsche das Symbol in einen
Gegensatz zum (apollinischen) Bild stellt. Damit stünde die Musik zwischen
dem Willen und der Erscheinungswelt, deren "Organ und Symbol" die Sprache
ist. Die Musik ist also Symbol des Willens, des "Ur-Einen", wie die Sprache
Symbol der Erscheinungen ist. Eine Vereinigung beider Bereiche ist möglich
und von Nietzsche erhofft: im Musikdrama. Dabei steigert die Musik das apollinische
begriffliche Bild und "lässt sodann das gleichnissartige Bild in höchster
Bedeutsamkeit hervortreten". Auch wenn Sprache nie die dionysische Erkenntnis
der Musik formulieren kann, so kann sie doch in Verbindung mit der Musik
das bedeutsamste Bild hervorbringen: den Mythos. Dieser Mythos wiederum schützt
uns vor der Musik - der 3. Akt des "Tristan" wäre rein instrumental
angehört unerträglich, weil eine so intensive dionysische Erfahrung
das Individuum zerbrechen würde. Nur der apollinische Schein, der
in Form des Mythos die Musik begleitet, stellt unsere Individualität
wieder her.
Der Begriff der Metapher, der in "Über Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne" so zentral ist, spielt in "Geburt der Tragödie"
nur eine unbedeutende Rolle. Dies ist darin begründet, daß die
Metapher nach Nietzsches Konzeption in der "Geburt der Tragödie" rein
apollinisch ist, und damit im Gegensatz zum Symbol steht. Nietzsche stellt
fest, "dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich
umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen
er hineinblickt. (...) Die Metapher ist für den ächten Dichter
nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm
wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt." (Dies ist m. E. die einzige
Stelle, an der überhaupt in der "Geburt der Tragödie" der Begriff
"Metapher" auftaucht.) Damit setzt Nietzsche die apollinische Metapher in
den Gegensatz zum dionysischen Symbol. Während sich hinter dem Symbol
unmittelbar das Ur-Eine verbirgt, ist die Metapher ein noch undurchsichtigeres
Symbol des Symbols. Dieser Gedanke ist zu unterstreichen, da er nach Gerold
Ungeheuer in Nietzsches Sprachphilosophie "den Schlüssel für
seine Grundeinsicht abgibt".