1.4. Nietzsches "Dionysos" als Schopenhauers "Wille" und als Kants "Ding an sich"
Es ist an dieser Stelle ein umfassenderer Blick auf Nietzsches Metaphysik in der
"Geburt der Tragödie" angebracht. "Dionysos als Ding an sich" lautet die Formel, die
Margot Fleischer
für diese Metaphysik fand. Schopenhauers "Wille", von ihm mit
dem "Ding an sich" identifiziert, ist bei Nietzsche das "Dionysische", bzw. das "Ur-Eine".
Dennoch erscheint es fraglich, ob man sagen kann: "Das Ur-Eine ist (...) als
Dionysos vorzustellen." Hat Nietzsche wirklich geglaubt, jenes Ur-Eine wäre, auf
welche Weise auch immer, vorzustellen? Eher ähnelt die "Geburt der Tragödie" in
diesem Punkt - wenn der gewagte Vergleich erlaubt ist - einem Gemälde von René
Magritte: Wie Magritte unter eine gemalte Pfeife schreibt "Dies ist keine Pfeife"
(weil es in der Tat keine Pfeife, sondern das Bild einer Pfeife ist), so will Nietzsche
darauf hinweisen, daß jede sprachliche Bezeichnung des "Dinges an sich" bereits
eine Erscheinung ist. Sein Name "Dionysos" entspräche demnach Magrittes
Schriftzug "Ceci n'est pas une pipe". Der Name eines alten griechischen Gottes legt
es nahe, daß er nicht wörtlich zu verstehen ist, sondern als Symbol für ein
verborgenes X, das sich jeglicher Annäherung durch Sprache entzieht - während der
Name "Ding an sich" zu dem Irrtum verleitet, man hätte damit einen präzisen Begriff
für jenes unbekannte X gefunden.
Nietzsches Metaphysik wird vor allem im Mythos des Dionysos Zagreus, des
zerrissenen Dionysos, symbolisiert. Deutlicher als in der "Geburt der Tragödie" ist
dies noch im Nachlaßfragment 7 [123] erkennbar.
In dem Mythos des griechischen
Dionysos-Mysterienkultes wird das Kind Dionysos von den Titanen zerstückelt: das
heißt, das Ur-Eine wird zerlegt in die Elemente, in Pflanzen, Tiere und Menschen
(und Götter). Diese Individuation bedeutet das Leiden des Dionysos. Die Hoffnung
auf Überwindung dieser Individuation bietet die Kunst (vor allem die Musik). Dies
sind für Nietzsche "alle Bestandtheile der tiefsinnigsten Weltbetrachtung (...): die
Grunderkenntniß von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der
Individuation als des Urgrundes alles Übels, das Schöne und die Kunst als die
Hoffnung daß der Bann der Individuation zu zerreißen sei, als die Ahnung einer
wiederhergestellten Einheit".