Wir müssen nun zunächst die Frage klären, was genau Nietzsche mit dem
"Dionysischen" gemeint hat - und zwar (da es immer noch um die "erkenntnistheoretische"
Entwicklung Nietzsches von der "Geburt der Tragödie" zu "Über
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" geht) vor allem im Zusammenhang
mit den Themen Sprache und Symbol.
Nietzsche läßt selbst keinen Zweifel daran, daß die "Geburt der Tragödie" stark
durch die Philosophie Arthur Schopenhauers beeinflußt ist. Seinem Begriff des
Dionysischen entspricht dabei Schopenhauers "Wille", und damit das "Ding an sich".
Anknüpfend an
Kants Lehre vom "intelligiblen Charakter" entwickelte Schopenhauer
seine These, das Ding an sich sei der Wille. Zu untersuchen ist zunächst
Schopenhauers Argumentation - was ist bei ihm "Wille", und warum kann er ihn mit
dem Ding an sich identifizieren?
Für Schopenhauer ist (wie für Kant) das Ding an sich in der "äußeren" Welt nicht zu
erkennen. Nun ist das Subjekt jedoch kein Wesen, das jener Welt rein betrachtend
gegenüberstehen würde, sondern das Subjekt ist als Individuum Teil dieser Welt,
und sein Erkenntnisvermögen basiert letztlich auf seinem Körper, der dem Subjekt
durchaus
"ein Objekt unter Objekten" ist. Während das Subjekt jedoch alle anderen
Objekte nur beobachten und über die Ursachen ihrer Bewegungen nur spekulieren
(bzw. sie aus Naturgesetzen ableiten) kann, erfährt es die Bewegung seines eigenen
Körpers auf andere Weise:
"nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches
das Wort Wille bezeichnet". Der Begriff "Wille" wird von Schopenhauer nicht
definiert, sondern eingeführt als etwas, das jedem unmittelbar bekannt ist. Und dies
ist ja tatsächlich der Fall. In der Philosophie ist es zwar sehr problematisch, über
etwas reden zu wollen, das letztlich nicht beweisbar und der theoretischen
Erkenntnis unzugänglich ist - dennoch muß man sich eingestehen, daß alles
theoretische Denken sich auf dem Bewußtsein eines Individuums aufbaut, und dieses
Bewußtsein ist nur sehr schwer faßbar. Schopenhauer sagt jedoch auch nicht
"Bewußtsein", sondern "Wille", was nicht nur zusammenhängt mit den Gedanken,
die er später daraus ableiten will. Im Willen ist das ganze Bewußtsein (Kants "Ich-denke")
enthalten, es umfaßt darüber hinaus aber auch alle unbewußten Regungen
des Körpers (und das sind die meisten), die zwar nicht vom Bewußtsein, aber doch
von einem gewissen "Selbst-Gefühl" begleitet sind. Dies ist der "Wille".
Der Wille ist für Schopenhauer
nicht die
Ursache der Bewegung des Körpers, denn
das Kausalitätsgesetz gilt nur in der Erscheinungswelt (hier unterscheidet sich
Schopenhauer von Kant, der ja aufgrund des Kausalitätsgesetzes auf ein Ding an sich
hinter den Erscheinungen schließt), sondern der Willensakt ist
identisch mit der
Körperbewegung - der Körper ist die Erscheinung, die unserer Anschauung
zugänglich ist, hinter der sich "an sich" jedoch der Wille verbirgt. Daher nennt
Schopenhauer den Körper
"Objektität des Willens".
Problematisch bleibt dennoch die Erkenntnis des Willens, da sie nur möglich ist
anhand des Körpers.
"Diesen Willen ohne meinen Leib kann ich demnach eigentlich
nicht vorstellen."
Einerseits ist dies logisch, da ja Wille und Körper identisch sein
sollen - andererseits stört dieser Gedanke doch erheblich Schopenhauers
Argumentation. Denn wie komme ich dazu, den Willen als Ding an sich zu
postulieren, wenn ich ihn letztlich gar nicht erkennen kann (sondern immer nur den
Körper, und nichts darüber hinaus)? Alles hängt wieder an dem "unmittelbar
Bekannte[n]" - doch auch hier muß man jetzt fragen: Wie kann der Wille
unmittelbar bekannt sein, wenn wir ihn nur als Körper kennen können? Diesen
Gordischen Knoten zerschlägt Schopenhauer, indem er zwei Erkenntnisweisen
unterscheidet: Neben die allgemein bekannte Vernunfterkenntnis stellt er "eine
Erkenntniß ganz eigener Art" - die unmittelbare Erkenntnis des Willens als
"die
Beziehung eines Urtheils auf das Verhältniß, welches eine anschauliche Vorstellung,
der Leib, zu dem hat, was gar nicht Vorstellung ist, sondern ein von dieser toto
genere Verschiedenes: Wille."Soweit kann man Schopenhauer noch folgen. Doch nun geht er den Schritt, der seine
Philosophie angreifbar macht: Er zieht den Analogieschluß vom Willen des
Menschen auf einen Willen in der gesamten
Natur, demzufolge dann auch Tiere,
Pflanzen, Kristalle, Planeten ihren "Willen" als Ding an sich haben. Schopenhauer
verwendet den Begriff "Wille" nicht in der üblichen Weise - das ist unbedingt
festzuhalten, denn aus dieser terminologischen Frage entsteht immer wieder große
Verwirrung. Für Schopenhauer ist "Wille" das
Wesen der Dinge, dasjenige, was
überhaupt ihr Dasein ausmacht.
Aber es ist jetzt auch nicht mehr nur
ein Wille, es ist
der Wille, der
das Ding an sich
darstellt - es gibt nur diese eine Monas, alles andere ist Erscheinung, Vorstellung.
(Die Einwände dagegen sind bekannt: Es ist nicht nachvollziehbar, daß es nur
ein
Ding an sich geben soll, statt einer Vielzahl von ihnen, und außerdem ist der
Analogieschluß vom Menschen auf die ganze Natur unzulässig, denn wir wissen
nicht, ob unser Wille vielleicht doch abhängt von spezifisch menschlichen
Gehirnfunktionen - dann könnten wir nicht allein aufgrund der Bewegung von
Planeten und Menschen folgern, daß der Planet in sich den gleichen Willen fühlt wie
der Mensch.)
Eine große Rolle spielt in Schopenhauers Philosophie die Musik. Sie ist für ihn
"eine
so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es
ist". Während die anderen Künste der Vermittlung durch die Vorstellungswelt
bedürfen, ist die Musik frei davon - die anderen Künste sind Abbildungen von
Abbildungen, die Musik hingegen eine Analogie des Willens selbst. Damit bietet die
Musik einen einzigartigen Zugang zum Ding an sich, der nur nicht theoretisch faßbar
ist, da Musik sich nicht in Sprache oder andere Darstellungsformen übersetzen läßt.
"Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als
zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache ansehn, welche selbst daher das allein
Vermittelnde der Analogie Beider ist, dessen Erkenntniß erfordert wird, um jene Analogie
einzusehn. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehn, eine im höchsten
Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie
diese zu den einzelnen Dingen."
Musik als Sprache, als Alternative zur Sprache der Begriffe - das mußte für
Nietzsche sehr interessant klingen. Es verwundert darum nicht, daß er in der "Geburt
der Tragödie" Schopenhauer hierzu sehr ausführlich
zitiert.