1.3. Der Einfluß Schopenhauers auf die "Geburt der Tragödie"


Wir müssen nun zunächst die Frage klären, was genau Nietzsche mit dem "Dionysischen" gemeint hat - und zwar (da es immer noch um die "erkenntnistheoretische" Entwicklung Nietzsches von der "Geburt der Tragödie" zu "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" geht) vor allem im Zusammenhang mit den Themen Sprache und Symbol.
Nietzsche läßt selbst keinen Zweifel daran, daß die "Geburt der Tragödie" stark durch die Philosophie Arthur Schopenhauers beeinflußt ist. Seinem Begriff des Dionysischen entspricht dabei Schopenhauers "Wille", und damit das "Ding an sich". Anknüpfend an Kants Lehre vom "intelligiblen Charakter" entwickelte Schopenhauer seine These, das Ding an sich sei der Wille. Zu untersuchen ist zunächst Schopenhauers Argumentation - was ist bei ihm "Wille", und warum kann er ihn mit dem Ding an sich identifizieren?

Für Schopenhauer ist (wie für Kant) das Ding an sich in der "äußeren" Welt nicht zu erkennen. Nun ist das Subjekt jedoch kein Wesen, das jener Welt rein betrachtend gegenüberstehen würde, sondern das Subjekt ist als Individuum Teil dieser Welt, und sein Erkenntnisvermögen basiert letztlich auf seinem Körper, der dem Subjekt durchaus "ein Objekt unter Objekten" ist. Während das Subjekt jedoch alle anderen Objekte nur beobachten und über die Ursachen ihrer Bewegungen nur spekulieren (bzw. sie aus Naturgesetzen ableiten) kann, erfährt es die Bewegung seines eigenen Körpers auf andere Weise: "nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet". Der Begriff "Wille" wird von Schopenhauer nicht definiert, sondern eingeführt als etwas, das jedem unmittelbar bekannt ist. Und dies ist ja tatsächlich der Fall. In der Philosophie ist es zwar sehr problematisch, über etwas reden zu wollen, das letztlich nicht beweisbar und der theoretischen Erkenntnis unzugänglich ist - dennoch muß man sich eingestehen, daß alles theoretische Denken sich auf dem Bewußtsein eines Individuums aufbaut, und dieses Bewußtsein ist nur sehr schwer faßbar. Schopenhauer sagt jedoch auch nicht "Bewußtsein", sondern "Wille", was nicht nur zusammenhängt mit den Gedanken, die er später daraus ableiten will. Im Willen ist das ganze Bewußtsein (Kants "Ich-denke") enthalten, es umfaßt darüber hinaus aber auch alle unbewußten Regungen des Körpers (und das sind die meisten), die zwar nicht vom Bewußtsein, aber doch von einem gewissen "Selbst-Gefühl" begleitet sind. Dies ist der "Wille".

Der Wille ist für Schopenhauer nicht die Ursache der Bewegung des Körpers, denn das Kausalitätsgesetz gilt nur in der Erscheinungswelt (hier unterscheidet sich Schopenhauer von Kant, der ja aufgrund des Kausalitätsgesetzes auf ein Ding an sich hinter den Erscheinungen schließt), sondern der Willensakt ist identisch mit der Körperbewegung - der Körper ist die Erscheinung, die unserer Anschauung zugänglich ist, hinter der sich "an sich" jedoch der Wille verbirgt. Daher nennt Schopenhauer den Körper "Objektität des Willens".

Problematisch bleibt dennoch die Erkenntnis des Willens, da sie nur möglich ist anhand des Körpers. "Diesen Willen ohne meinen Leib kann ich demnach eigentlich nicht vorstellen." Einerseits ist dies logisch, da ja Wille und Körper identisch sein sollen - andererseits stört dieser Gedanke doch erheblich Schopenhauers Argumentation. Denn wie komme ich dazu, den Willen als Ding an sich zu postulieren, wenn ich ihn letztlich gar nicht erkennen kann (sondern immer nur den Körper, und nichts darüber hinaus)? Alles hängt wieder an dem "unmittelbar Bekannte[n]" - doch auch hier muß man jetzt fragen: Wie kann der Wille unmittelbar bekannt sein, wenn wir ihn nur als Körper kennen können? Diesen Gordischen Knoten zerschlägt Schopenhauer, indem er zwei Erkenntnisweisen unterscheidet: Neben die allgemein bekannte Vernunfterkenntnis stellt er "eine Erkenntniß ganz eigener Art" - die unmittelbare Erkenntnis des Willens als "die Beziehung eines Urtheils auf das Verhältniß, welches eine anschauliche Vorstellung, der Leib, zu dem hat, was gar nicht Vorstellung ist, sondern ein von dieser toto genere Verschiedenes: Wille."

Soweit kann man Schopenhauer noch folgen. Doch nun geht er den Schritt, der seine Philosophie angreifbar macht: Er zieht den Analogieschluß vom Willen des Menschen auf einen Willen in der gesamten Natur, demzufolge dann auch Tiere, Pflanzen, Kristalle, Planeten ihren "Willen" als Ding an sich haben. Schopenhauer verwendet den Begriff "Wille" nicht in der üblichen Weise - das ist unbedingt festzuhalten, denn aus dieser terminologischen Frage entsteht immer wieder große Verwirrung. Für Schopenhauer ist "Wille" das Wesen der Dinge, dasjenige, was überhaupt ihr Dasein ausmacht.
Aber es ist jetzt auch nicht mehr nur ein Wille, es ist der Wille, der das Ding an sich darstellt - es gibt nur diese eine Monas, alles andere ist Erscheinung, Vorstellung. (Die Einwände dagegen sind bekannt: Es ist nicht nachvollziehbar, daß es nur ein Ding an sich geben soll, statt einer Vielzahl von ihnen, und außerdem ist der Analogieschluß vom Menschen auf die ganze Natur unzulässig, denn wir wissen nicht, ob unser Wille vielleicht doch abhängt von spezifisch menschlichen Gehirnfunktionen - dann könnten wir nicht allein aufgrund der Bewegung von
Planeten und Menschen folgern, daß der Planet in sich den gleichen Willen fühlt wie der Mensch.)

Eine große Rolle spielt in Schopenhauers Philosophie die Musik. Sie ist für ihn "eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist". Während die anderen Künste der Vermittlung durch die Vorstellungswelt bedürfen, ist die Musik frei davon - die anderen Künste sind Abbildungen von Abbildungen, die Musik hingegen eine Analogie des Willens selbst. Damit bietet die Musik einen einzigartigen Zugang zum Ding an sich, der nur nicht theoretisch faßbar ist, da Musik sich nicht in Sprache oder andere Darstellungsformen übersetzen läßt.
"Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache ansehn, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie Beider ist, dessen Erkenntniß erfordert wird, um jene Analogie einzusehn. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehn, eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen."
Musik als Sprache, als Alternative zur Sprache der Begriffe - das mußte für Nietzsche sehr interessant klingen. Es verwundert darum nicht, daß er in der "Geburt der Tragödie" Schopenhauer hierzu sehr ausführlich zitiert.