1.2. Dionysos als Metapher: Die Vertauschung der Götternamen aus Rücksicht auf
das Publikum
In der "Geburt der Tragödie" entsprechen dem Gegensatzpaar Apollinisch -Dionysisch
zahlreiche analoge Paarungen, wie Traum und Rausch, oder Plastik und
Musik. Eine weitere Analogie, die von Nietzsche nicht explizit genannt wird,
obwohl sie ein tragendes Fundament der "Geburt der Tragödie" bildet, ist das Paar
Griechenland - Deutschland. Nietzsche hoffte auf eine künstlerische Erneuerung
Deutschlands, und er sah Richard Wagner als den Erfüller dieser Hoffnungen. Wenn
er Ende 1870 notiert: "Deutschland als das rückwärtsschreitende Griechenland: wir
sind in der Periode der Perserkriege angelangt.", so setzt er den deutsch-französischen
Krieg in Analogie zu den Perserkriegen, und damit den Tragödiendichter
Aischylos (der bei Marathon und Salamis mitkämpfte) in Analogie zu
Wagner. Die Epoche der Aufklärung lag bei den Griechen (mit den Sophisten und
Sokrates) nach, bei den Deutschen vor den genannten Ereignissen - daher Nietzsches
These, Deutschland sei das rückwärtsschreitende Griechenland. In der "Geburt der
Tragödie" heißt es dann:
"... dass wir gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des hellenischen
Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter
rückwärts zur Periode der Tragödie zu schreiten scheinen."
Apollon und Dionysos sind griechische Götter, was leicht zu dem Mißverständnis
führt, Nietzsche hätte sowohl das Apollinische als auch das Dionysische mit der
antiken griechischen Kultur identifiziert. Aber obwohl Nietzsche die Tragödie aus
der Verschmelzung des Apollinischen mit dem Dionysischen herleitet, ist das
originär-griechische Element für ihn allein das Apollinische - während das
Dionysische ein orientalischer Einfluß gewesen sei, den die Griechen bändigen
konnten: "Die höchste That des Hellenenthums: die Bändigung der orientalischen
Dionysos-Musik und Zubereitung derselben zum bildlichen Ausdruck."
Die orientalisch-dionysische Kultur brachte einige Jahrhunderte später das Christentum
hervor (eine merkwürdig klingende Feststellung, wenn man Nietzsches späteres
Diktum "Dionysos gegen den Gekreuzigten" im Ohr hat), was dann dem Abendland
bis in die Neuzeit hinein seinen Stempel aufdrückte. Damit ist für Nietzsche die
europäisch-christliche Kultur, und ebenso die germanische (was allerdings etwas willkürlich erscheint), dionysisch.
Jetzt wird verständlicher, was Nietzsche mit der Umkehrung des Verhältnisses
zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen meint:
Die apollinischen Griechen erfaßten das Dionysische mit Hilfe des (apollinischen)
Bildes. Mythen und Bilder waren die Welt des apollinischen Menschen, das
Dionysische an sich blieb ihm unverständlich. Bei uns "Germanen" ist dies
umgekehrt, da wir, so Nietzsche, dionysische Menschen sind - unsere Welt ist die
Musik, die direkteste Ausdrucksform des Dionysischen. "Also ein Ereigniß nicht auf
seine darinliegenden Ideen, sondern auf seine Musiksymbolik hin ansehen: d.h. die
dionysische Symbolik wird fortwährend bei irgendeinem Dinge empfunden. Die antike Fabel
symbolisirte das Dionysische (in Bildern). Jetzt symbolisirt das Dionysische das Bild."
Da das Apollinische uns unverständlich ist (wir können Bilder nicht naiv, ohne
Interpretation erfassen), führt der Weg zu einer künstlerischen Weltbetrachtung für
uns nur über das Dionysische. Damit ist zumindest ein deutlicher Perspektivismus
gegeben, wenn auch noch nicht (wie de Man meint) die "beliebige Vertauschung
oder gar Umkehrung der Namen" aus "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne".