1. Erkenntnis und Wissenschaft in Nietzsches "Geburt der Tragödie"
1.1. Die erkenntnistheoretische Relevanz der "Geburt der Tragödie"
Wenn man Nietzsches Werke mit erkenntnistheoretischem Interesse liest, so hat es
den Anschein, daß die frühen Schriften vernachlässigt werden können. Das
verbreitete Urteil lautet: Anfangs trieb Nietzsche "Artisten-Metaphysik", schrieb
über die alten Griechen, über Bildungsfragen und Wagners Musik, und war dabei
streng anti-wissenschaftlich. Erst nach einem überraschenden Bruch mit seinen
früheren Interessen schreibt er die fragmentarische Schrift "Über Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne", mit der er sich plötzlich erkenntnistheoretischen
Fragen zuwendet. Demzufolge betrachten die meisten Nietzsche-Forscher jenen Text
als den frühesten, der erkenntnistheoretisch relevant ist.
Der dekonstruktivistische Literaturwissenschaftler Paul de Man verfasste eine
lesenswerte Interpretation von "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne", auf die in dieser Studie später noch eingegangen wird. Aber de Man war
einer der wenigen Nietzsche-Interpreten, die sich zuvor intensiv mit der "Geburt der
Tragödie" beschäftigten, denn für de Man gibt es keinen Bruch in Nietzsches
philosophischer Entwicklung zwischen der "Geburt der Tragödie" und "Über
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne". Die Ironie von "Über Wahrheit
und Lüge im aussermoralischen Sinne" stand bereits zur Zeit der "Geburt der
Tragödie" im Hintergrund - dies zeige sich in Nietzsches nachgelassenen Notizen
der frühen 1870er Jahre. Wenn man diese Materialien bei der Lektüre der "Geburt
der Tragödie" berücksichtige, werde erkennbar, wie alle vermeintlichen Autoritätsansprüche
des Textes durch eine implizite Ironisierung untergraben werden. Vor
allem bedeutet dies, "daß die Bewertung des Dionysos als der ersten Quelle der
Wahrheit viel eher eine taktische Notwendigkeit als eine substantielle Behauptung
ist." De Man bezieht sich damit auf Nietzsches Notizen aus dem Jahr 1871, die in
der Colli/Montinari-Ausgabe die Nummer 9 [92] tragen. Dort heißt es:
"Der Mangel des Symbols in unserer modernen Welt. Verständniß der Welt in "Symbolen" ist
die Voraussetzung einer großen Kunst. Für uns ist die Musik zum Mythus, zu einer Welt von
Symbolen geworden: wir verhalten uns zur Musik, wie der Grieche zu seinen symbolischen
Mythen.
(...)
Die antike Fabel symbolisirte das Dionysische (in Bildern). Jetzt symbolisirt das Dionysische
das Bild.
Das Dionysische wurde durch das Bild erklärt.
Jetzt wird das Bild durch das Dionysische erklärt.
Also völlig umgekehrtes Verhältniß."
In Zusammenhang damit steht eine andere Notiz, 9 [10], die ebenfalls die "völlige
Verkehrung des Verhältnisses zwischen Dionysisch und Apollinisch" thematisiert.
Demnach ist das Apollinische, das Bild, uns schwer verständlich - wir haben
stattdessen eine "germanische Begabung" für das Dionysische.
"Wir sind ganz unfähig, zum Naiven zu kommen und mit Hülfe des Apollinischen. Wohl aber
können wir die Welt uns rein dionysisch auslegen und die Erscheinungswelt uns durch Musik
deuten. Wir bekommen so wenigstens wieder die künstlerische Weltbetrachtung, den
Mythus."
Hier spricht Nietzsche offen davon, daß wir uns die Welt dionysisch auslegen
können - also ist das Dionysische für ihn kein tatsächlich wirkendes "metaphysisches
Prinzip", o. ä., sondern eine Metapher. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt
nun die "Geburt der Tragödie".