In der Nietzsche-Forschung wurden erkenntnistheoretische
Fragen zuerst vernachlässigt, lange Zeit hindurch dominierten ausschließlich
Stichworte wie "Moralkritik", "Wille zur Macht", "Ewige Wiederkehr" etc.
- zwar veröffentlichte
Rudolf Eisler
bereits 1902 ein Buch mit dem Titel "Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik:
Darstellung und Kritik", aber diesen Faden nahm zunächst niemand auf.
Dies hat sich inzwischen jedoch wesentlich geändert: Seitdem der erkenntnistheoretisch
relevante "Perspektivismus" als eine der Hauptlehren Nietzsches ermittelt
wurde, ist eine Flut von Forschungsliteratur zu diesem und zu verwandten
Themen angewachsen - nach meinen Recherchen umfaßt die Gesamtzahl der
Publikationen über Nietzsche von 1980 bis 1996 mehr als 4000 Titel,
und ein nicht unbedeutender Teil davon könnte für Fragen der Erkenntnis-
und Wissenschaftstheorie interessant sein. Aber natürlich ist die Diskussion
dieser unabsehbaren Masse an Sekundärliteratur hier nicht möglich.
Diese Studie beschränkt sich deshalb darauf, die Primärtexte Nietzsches
zu interpretieren, und nur an Stellen, wo es zum Textverständnis hilfreich
erscheint, oder wo grundsätzliche Unterschiede zwischen den Interpretationen
auftauchen, wird auf die Sekundärliteratur verwiesen.
Um zumindest
eine vorläufige Orientierung in der unübersichtlichen Forschungsliteratur
zu erreichen, sei hier festgehalten, daß sich (besonders in Hinsicht
auf erkenntnistheoretische Fragen) vom kontinentaleuropäischen Hauptstrom
der jüngeren Nietzsche-Forschung zwei Rezeptions-Schulen abheben: 1.
die angelsächsische analytische Philosophie (zu nennen wären hier
vor allem
Danto,
Magnus und neuerdings
Clark) und 2. die dekonstruktivistische Schule (
de Man,
Derrida,
Kofman u. a.), Ferner soll
Rüdiger H. Grimm an dieser Stelle erwähnt werden, der Nietzsches
Erkenntnistheorie ein besonderes Werk gewidmet hat, in dem er sich jedoch fast ausschließlich auf Nietzsches
Spätphilosophie bezieht - aus diesem Grunde steht er außerhalb des Horizonts der vorliegenden Studie.