6. Kurze Skizzierung zweier gegensätzlicher Positionen in der aktuellen Nietzsche-Forschung

Abschließend soll nun noch anhand zweier exemplarischer Texte ein Blick auf erkenntnistheoretische Fragen in der aktuellen Nietzsche-Forschung geworfen werden.
 Maudemarie Clark, die der angelsächsischen analytischen Philosophie nahesteht, stellt in ihrem Buch "Nietzsche on Truth and Philosophy" die These auf, Nietzsche habe in seinem frühen Werk "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" radikal den Wahrheitsbegriff geleugnet, habe sich dabei jedoch in innere Widersprüche verwickelt. Deshalb habe er diese frühe Position später revidiert und eine "neo-kantianische" Position eingenommen: Seit "Menschliches, Allzumenschliches" habe er zwar das Ding an sich geleugnet, dafür aber die Möglichkeit von "wahrer" Erkenntnis bejaht.

Wenn Nietzsche in "Wahrheit und Lüge" schreibt, Wahrheit sei der Gebrauch der Sprache, wie er in der jeweiligen Gesellschaft üblich ist, dann lehnt er damit (laut Clark ) nicht jede, sondern nur eine bestimmte Wahrheitstheorie ab, nämlich die Korrespondenztheorie. Seine Position sei dabei aber sehr schwach. Zunächst müsse Nietzsche sich fragen lassen, ob seine eigene These über die Wahrheit wahr oder falsch sei: Der Satz "Wahrheit ist Lüge" verstoße gegen die sprachliche Konvention, sei also selbst eine Lüge ... Aber davon abgesehen, könne Wahrheit nicht einfach als sprachliche Konvention definiert werden, denn zu einer wahren Aussage gehöre über die Konvention hinaus immer auch ein reales Etwas, auf das sich die Aussage bezieht, und auch dieser Bezug (also die Korrespondenz) müsse wahr sein, aber das würde Nietzsche nicht berücksichtigen. Als Beispiel führt sie den beliebten Satz "Es regnet." an, der dann wahr sei, wenn man die Anführungszeichen weglassen kann: wenn es regnet. Tatsächlich berücksichtigt Nietzsche diese Art von "Wahrheit" aber durchaus: Es ist jene Kamel-Wahrheit, die man findet, weil man sie selbst versteckt hat. Clark würde wohl einwenden, daß es hier nicht um Definitionsfragen gehe, sondern um die eindeutige Benennung eines Phänomens (Regen). Babich macht jedoch darauf aufmerksam, daß weder das Phänomen noch die Benennung eindeutig sind: Ist der Satz "Es regnet." wahr, wenn ein einzelner Tropfen vom blauen Himmel fällt? Und bei zwei Tropfen? Es handelt sich hier um die angemessen Benutzung des Wortes "Regen" gemäß den sprachlichen Konventionen, aber nicht um eine "wahre" Korrespondenz der Sprache zu einem Regen an sich.
Clark wendet sich nun zu Nietzsches Diktum, Wahrheit sei ein Heer von Metaphern, und hierzu stellt sie fest, daß die Gleichsetzung von Sprache und Metapher unklar sei, weil die Kreation von Metaphern die Möglichkeit voraussetzt, Sprache unmetaphorisch zu gebrauchen. Auf dieser Grundlage kritisiert sie Paul de Mans Nietzsche-Interpretation mit logischem Scharfsinn - Clark hat erstaunlicherweise keinerlei Bedenken, Nietzsches Verwendung des Wortes "Metapher" wörtlich zu nehmen, anstatt es (was ja nur konsequent wäre) metaphorisch zu verstehen. Sie übersieht das "große" Paradoxon des Textes über "Wahrheit und Lüge": daß jener Text, in dem die Wahrheit als Metapher bezeichnet wird, selbst eine Metapher ist, wodurch Nietzsche (gemäß der dekonstruktivistischen Interpretation) die traditionelle Logik unterminieren will. Stattdessen nimmt Clark Nietzsche wörtlich und zeigt einzelne Widersprüche auf, die durch dieses Wörtlichnehmen entstehen.
Für Clark war der späte Nietzsche ein "Neo-Kantianer": Er habe mit Kant die Erkenntnismöglichkeit des Dinges an sich geleugnet, gegen Kant jedoch bereits schon die Konzeption eines Dinges an sich abgelehnt. Da er zu dieser Haltung durch gründliche Reflektion der kantischen Philosophie gelangte, sei die Bezeichnung "Neo-Kantianer" für ihn gerechtfertigt. Aber dies treffe nur für den späten Nietzsche zu - in "Wahrheit und Lüge" vertrete Nietzsche noch vollkommen den kantianischen Standpunkt, wonach ein Ding an sich konzipiert wird, dessen Erkenntnis die Wahrheit wäre; da der Mensch es aber nicht erkennen kann, ist für ihn auch keine Wahrheit möglich.
Später habe sich Nietzsche dann das argumentative Scheitern von "Wahrheit und Lüge" eingestehen müssen und in "Menschliches, Allzumenschliches" einen neuen Weg beschritten: Hier lehne er nun radikal die Konzeption des Dinges an sich ab und verfechte die Möglichkeit von wahrer Erkenntnis durch strenge Wissenschaft. Damit hätte er fast die neo-kantianische Position erreicht, wenn er nicht noch an einem Agnostizismus festhalten würde, wonach die reine Möglichkeit einer metaphysischen Welt nicht auszuschließen sei. Eindeutig, so Clark, habe Nietzsche aber seine frühere Position, wonach "Wahrheit" reine Illusion sei, aufgegeben.

Vier Jahre nach Clarks "Nietzsche on Truth and Philosophy" erschien das Buch "Nietzsche's Philosophy of Science" von Babette E. Babich, in dem an zahlreichen Stellen scharfe Kritik an Clark geübt wird. Babich, wie Clark eine US-amerikanische Wissenschaftlerin, steht Heidegger und den Dekonstruktivisten nahe und distanziert sich klar von der analytischen Philosophie. Für sie ist Clarks "analytische" Nietzsche-Interpretation schon deshalb grundlegend verfehlt, weil Clark Nietzsche in einer simplifizierenden Weise wörtlich nimmt. Eine solche Interpretation übersieht, was Babich als "concinnity" bezeichnet: Die kreative Resonanz des Lesers, die von Nietzsche vorausgesetzt wurde und die seine Texte erst vollständig machen. Babich denkt bei dieser musikalischen Metapher an eine gelungene Jam-Session im Jazz, bei der jeder Musiker sein Spiel auf die anderen Instrumente einstimmt, wobei er zugleich deren Spiel vorbereitet und begleitet, so daß schließlich ein harmonisches Ganzes aus dem Zusammenspiel aller entsteht, jede einzelne Stimme isoliert betrachtet dagegen unvollständig wäre. Eine solche Konzinnität ist laut Babich auch in der Nietzsche-Interpretation zu berücksichtigen, denn Nietzsches Texte seien so angelegt, daß zu dem, was in und zwischen den Zeilen steht, noch die kreative Resonanz des Lesers hinzukommen müsse, um ein Ganzes zu bilden.
Weil Clark diese Konzinnität ignoriert, geht ihre Nietzsche-Interpretation in die Irre. Es ist natürlich vollkommen vernünftig, zu sagen, Nietzsche widerspreche sich selbst. Aber er widerspricht sich freiwillig, und gerade dadurch unterminiert er die herkömmliche Vernunft. Nietzsches Kritik an der Logik mit eben jenen logischen Maßstäben zu messen, die Nietzsche kritisiert, verletzt die Spielregeln der Interpretation. Wenn man dies, wie Clark, nicht berücksichtigt, komme man zu der Annahme, Nietzsche könne bestimmte Thesen "nicht so gemeint haben" weil sie ja nicht logisch seien: Man beschneidet Nietzsches Radikalität und leugnet gar völlig seine epistemologische Relevanz.
Nach Babichs Interpretation ist Nietzsches Erkenntnistheorie dagegen von großer Bedeutung: Nietzsche will darin die ökophysiologische Fundierung der menschlichen Erkenntnis offenlegen, wobei "ökophysiologisch" eine Perspektive bezeichnet, die sowohl durch die physiologische Bedingtheit des Menschen als auch durch seine Relation zur Umwelt bestimmt ist. Diese Dimension wird von Clark überhaupt nicht wahrgenommen. Ähnlich verhält es sich auch bei der Interpretation von Nietzsches Perspektivismus: Für Clark bedeutet Perspektivismus einfach die These, jegliche Erkenntnis sei perspektivisch. Für Babich ist dies viel zu kurz gegriffen, sie prägt stattdessen für Nietzsches Philosophie den (wiederum unübersetzbaren) Neologismus "perspectivalism". Dieser Perspektivalismus bedeutet nicht nur die Einsicht, daß jede Erkenntnis perspektivisch ist, sondern darüberhinausgehend die Reflexion über die Konsequenzen dieser Einsicht.
Nietzsche als irregehender, nicht immer ernstzunehmender Denker, der schließlich im sicheren Hafen des Neo-Kantianismus landete, oder aber als ökophysiologischer Perspektivalist - dies könnte man als die beiden entgegengesetzten Pole der erkenntnistheoretischen Nietzsche-Interpretation in den 90er Jahren verstehen. Die Nietzsche-Forschung wird weiterhin spannend bleiben, ein Ende ist nicht abzusehen, denn: "Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es giebt keine 'richtige' Auslegung."