5.6. Ein Perspektivenwechsel: Die Berechtigung der Metaphysik
Doch es findet sich in "Menschliches, Allzumenschliches" neben all den
metaphysik-kritischen Passagen auch eine überraschende Rechtfertigung der
Metaphysik. Wer im Geiste der Aufklärung über die metaphysischen Vorstellungen
hinausgegangen sei, so Nietzsche, müsse auch wieder ein Stück zurückgehen:
"Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nötig: er muß die historische Berechtigung,
ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muß erkennen, wie die
größte Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine
solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben
würde."
Dieser Satz verblüfft den Leser zunächst, er klingt so, als würde Nietzsche sich hier
selbst widersprechen und seine vorangegangene Metaphysik-Kritik zurücknehmen. Bei
genauerer Betrachtung bemerkt man jedoch den entscheidenden Unterschied: Während
es in den metaphysik-kritischen Aphorismen um den Einzelnen geht, um die
Redlichkeit des Individuums, die das Ablegen metaphysischer Vorstellungen verlangt,
geht es hier um die Menschheit und ihr Bedürfnis nach Metaphysik. Nietzsche sieht
zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit ein klares Spannungsverhältnis - nur
Einzelne sind fähig, sich zu "freien Geistern" zu entwickeln, die breite Masse dagegen
bleibt an metaphysische Illusionen gebunden. Diese Spannung ist vielleicht noch
deutlicher in Nietzsches Notizen erkennbar: 1876 notierte er, die Religionen drückten
keinerlei Wahrheit aus,
aber gleich auf der nächsten Seite räumte er ein, daß die
Religion den Menschen Glück und Trost verleihe - die Frage nach ihrer Wahrheit sei
irrelevant, denn die Menschheit habe bislang immer nur nach dem Nutzen und nicht
nach der Wahrheit gefragt. Wenn die Religion, also die "Lüge", zum Leben nötig ist,
darf sie nicht erschüttert werden.
Die Problematik ergibt sich aus der Unvereinbarkeit
zweier Perspektiven: Aus der Perspektive des freien Geistes ist Metaphysik Lüge, aus
der Perspektive der Allgemeinheit sind die metaphysischen Illusionen zum Leben
notwendig. Soll der freie Geist nun seine Wahrheit als "nur perspektivisch" deklarieren,
der Lüge ihre Berechtigung zusprechen und sich damit in die Unredlichkeit begeben?
Oder soll er an seiner Wahrheit festhalten, auch wenn die Menschheit dabei zugrunde
gehen würde und er als eine Gefahr für die Allgemeinheit dastünde? Einerseits muß der
freie Geist sich selber treu bleiben, andererseits kann er nicht ohne oder gar gegen die
Menschheit leben. In dieser Ambivalenz stand Nietzsche, und das Abwägen der einen
und der anderen Position bestimmen einen großen Teil seines Werkes, so auch jene
Passagen in "Menschliches, Allzumenschliches". Später wird sich Nietzsche für die
radikale Einsamkeit des freien Geistes entscheiden - die tragischen Folgen sind bekannt.
In "Menschliches, Allzumenschliches" sieht Nietzsche als Ausweg aus dem Dilemma nur
eine zukünftige Evolution der Menschheit: Wenn Metaphysik und Kunst als größte
Lustquellen für die Menschheit unverzichtbar sind, die Wissenschaft sie jedoch immer
mehr in Frage stellt, dann müsse "eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn,
gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um
Nicht-Wissenschaft zu empfinden: nebeneinander liegend, ohne Verwirrung, trennbar,
abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit."
Die metaphysisch-künstlerische
Gehirnkammer wäre die Kraftquelle, die wissenschaftliche hingegen der
Regulator, der ein Ausufern des Irrationalen verhindert. Sollte diese Evolution des
Menschen nicht gelingen, so sieht Nietzsche das Ende der Wissenschaft voraus, indem
die Menschheit, die ihre Lust an Illusionen nicht kontrollieren kann, in den Aberglauben
zurücksinkt. Aber diese Evolution war eine Utopie, und es stellt sich die Frage,
inwieweit Nietzsche tatsächlich an die Möglichkeit ihrer Verwirklichung geglaubt hat. Er
konnte nicht wissen, daß die Gehirnforschung des 20. Jahrhunderts seinem Modell
überraschend nahekommt, wenn sie die Unterteilung des Gehirns in eine linke und eine
rechte Hälfte feststellt und der einen Hälfte die logisch-wissenschaftliche, der anderen
die emotional-künstlerische Gehirnaktivität zuordnet. Vielleicht hätte Nietzsche unter
diesem Gesichtspunkt die Zukunft der Menschheit positiver eingeschätzt.