5.5. Die zukünftige Wissenschaft als Weiterführung der Kunst

Es ergibt sich also als Kern von Nietzsches Wende zur Wissenschaftlichkeit eine Betonung der menschlichen Gattungs-Perspektive und eine Philosophie des Leibes. Doch bedeutet dies, Nietzsche sei nun genau das geworden, was er früher verpönt habe: Positivist, Sokratiker, Intellektueller? Dem widerspricht ein Aspekt von "Menschliches, Allzumenschliches", der bislang vernachlässigt wurde: die harsche Kritik an den zeitgenössischen Wissenschaftlern. Die wissenschaftliche Kultur, für die Nietzsche plädiert, ist nicht die seiner Epoche; die Gelehrten seiner Zeit beurteilt er als unfrei, pedantisch, verkrüppelt durch altmodische geistlose Methoden, "Höflinge einer alten, ja greisenhaften Kultur". Ausdrücklich verweist Nietzsche noch einmal auf seine Aufzählung der unlauteren Antriebe des Gelehrten in "Schopenhauer als Erzieher", er nimmt nichts davon zurück, sondern fügt jetzt nur hinzu, daß jene Unredlichkeiten auch in der Genese des Künstlers und des Philosophen zu suchen seien. Nietzsches Perspektivenwechsel von "Menschliches, Allzumenschliches" bedeutet also keine Revidierung seiner früheren Wissenschaftskritik, sofern sie Kritik an der zeitgenössischen Wissenschaft war: Der Perspektivenwechsel bedeutet vielmehr die Ausweitung jener früheren Kritik durch eine Kunst- und Philosophiekritik. Nietzsches Leitfrage ist immer noch, wie die Entwicklung einer höheren Kultur möglich sei - seine Antwort enthält nun die Forderung nach einem neuen wissenschaftlichen Geist, der aber etwas grundlegend anderes als den Geist der zeitgenössischen Wissenschaft darstellt.

Gleichzeitig mit der Kombination seiner Wissenschafts- und Kunstkritik vollzieht Nietzsche jedoch auch eine Abscheidung dessen, was er in Kunst und Wissenschaft erhaltenswert findet, und versucht, daraus eine neue Einheit zu bilden: "Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen." Das heißt, Nietzsche betrachtet die bisherige Bedeutung der Kunst (für ihn selbst wie für die Kulturgeschichte insgesamt) als abgeschlossen, weil die Kunst verknüpft sei mit metaphysischen Voraussetzungen, an denen nicht länger festgehalten werden könne. Aber dasjenige, was die Kunst in der Vergangenheit vorrangig gelehrt habe, nämlich die Bejahung des Lebens, "Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmäßiger Entwicklung anzusehen", das könne erhalten werden, indem es nun vom "wissenschaftlichen Menschen" weiterentwickelt wird - hieran knüpft sich wieder alles, was oben über Nietzsches Neubewertung der Wissenschaft gesagt wurde. Neben dem Perspektivenwechsel wird hier auch die Kontinuität in Nietzsches philosophischer Entwicklung deutlich: Schon in der "Geburt der Tragödie" ging es ihm um die "Rechtfertigung" des Lebens, die er damals durch die Kunst gegeben sah. Nun ist diese Rolle der Kunst mit der Metaphysik zerbrochen, aber Nietzsches Ziel ist nach wie vor, die Bejahung des Lebens philosophisch zu begründen, und dies leistet für ihn nun die wissenschaftliche Haltung des "freien Geistes".