5.4. Nietzsches evolutionäre Erkenntnistheorie

"Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden" - dieser Satz Nietzsches wird oft zur Charakterisierung des Perspektivismus zitiert, und doch gibt es einen Unterschied zu den oben genannten Aphorismen 31-34: Während es dort um die individuelle Perspektive ging, die bedingt, daß der einzelne Mensch nie eine vollständige Erkenntnis vom anderen gewinnen kann, geht es hier um eine menschliche Gattungs-Perspektive. Sie ist der individuellen Perspektive übergeordnet: Jedes Individuum hat zwar seine individuelle Perspektive, die es von allen anderen unterscheidet, es hat aber als biologisches, leibliches Wesen auch die Gattungsperspektive, die es mit allen Gattungsmitgliedern teilt. Hier greift Nietzsche Gedanken aus "Über Wahrheit und Lüge" wieder auf und bringt sie erstmals ans Licht der Öffentlichkeit ("Über Wahrheit und Lüge" blieb ja ein Fragment).

 Bezugnehmend auf die Gattungsperspektive lehnt Nietzsche nun die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis ab. Zwar bleibe die Frage offen, was von der Welt übrig sei, wenn man den Menschenkopf doch abschneiden könnte, aber das sei wenig relevant, nachdem man erst einmal (mit der genealogischen Methode) herausgearbeitet habe, aus welchen Motiven der Mensch metaphysische Annahmen wertschätze. Die Entdeckung von Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug als Fundament aller vorhandenen Metaphysiken bedeute deren Widerlegung. Daher ließe sich über jene mögliche metaphysische Welt jenseits der menschlichen Gattungsperspektive nichts aussagen als "ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein" - und das wäre die gleichgültigste aller Erkenntnisse.

Auch auf die menschliche Gattungsperspektive selbst richtet Nietzsche den genealogischen Blick, und er kommt dabei zu Ergebnissen, die als Vorwegnahme der modernen "evolutionären Erkenntnistheorie" gelten können: Die niederen Organismen sahen anfangs in ihrer Welt keine Unterschiede, bis sie verschiedene Auslöser von Lust und Unlust feststellten und sie mit einzelnen Substanzen identifizierten - eine Substanz wurde verknüpft mit einem Attribut, und so, sagt Nietzsche, kam das Urteil in die Welt. Die Zustände wiederum, die weder mit Lust noch mit Schmerz verbunden waren, wurden ohne Interesse empfunden, hier wurde alles als gleich wahrgenommen, und daher stamme der menschliche Glaube, daß es gleiche Dinge gäbe. Und schließlich entstand in jener frühen Entwicklungsphase die Illusion der Willensfreiheit, weil die Eingebundenheit des Leibes in die Umwelt und die daraus resultierenden Kausalitätsverhältnisse nicht erkannt wurde: Der Organismus sagte "ich will", weil er die tatsächliche Motivation für sein Handeln nicht sah.

In seiner evolutionären Erkenntnistheorie betont Nietzsche also die Unüberschreitbarkeit der Gattungsperspektive auf der Grundlage der Leiblichkeit. Später wird er im "Zarathustra" von der "großen Vernunft des Leibes" sprechen und weitreichende Konsequenzen daraus ziehen, zwischen Ich und Selbst unterscheiden etc. - für all das stellen diese genealogischen Betrachtungen über die biologischen Ursprünge der menschlichen Erkenntnis in "Menschliches, Allzumenschliches" den Ausgangspunkt dar.