5.3. Perspektivismus statt Metaphysik
Die Metaphysik wurde nicht nur in früheren Epochen der Menschheitsgeschichte
verehrt, sondern sie wird auch vom einzelnen Menschen in jungen Jahren geschätzt
-Nietzsche
verarbeitet hier seine eigene Biographie. Der junge Mensch will
unangenehmen Dingen eine Bedeutung verleihen, er will seine Unzufriedenheit
überwinden, indem er sie aufwertet und "das innerste Welträtsel und Weltelend" darin
entdeckt. Dies können wir auf die Lehre Schopenhauers beziehen und auf Nietzsches
frühere Philosophie, wonach die Metaphysik zum Leben notwendig sei, auch wenn sie
als Illusion erkannt ist. Von diesen Ansichten wendet sich der ältergewordene Mensch
(der Nietzsche des Jahres 1878) ab, weil er einsieht, daß jene Wirkungen auf das
Leben, um derentwillen er die Metaphysik für unverzichtbar hielt, "auf einem anderen
Wege ebensogut und wissenschaftlicher zu erreichen sind", nämlich durch physische und
historische Erklärungen. Sie bewirken ebenso wie die Metaphysik, daß der Mensch
sich unverantwortlicher, von den beschwerlichen Seiten des Daseins entlastet fühlt, und
darüber hinaus wecken sie ein stärkeres Interesse am Leben. Nietzsche rückt also von
seiner früheren Position ab, wonach die Illusion zum Leben notwendig sei. Das
bedeutet jedoch nicht, Nietzsche würde nun gleich die entgegengesetzte Haltung
einnehmen und behaupten, das Leben sei vollkommen auf rationalem Wege zu meistern:
Immer noch gilt, daß (wenn auch nicht die Illusion, so doch) das Unlogische
zum
Leben nötig sei, sowie "der Irrtum über das Leben".
Das klingt widersprüchlich, denn
haben nicht Illusion und Irrtum annähernd dieselbe Bedeutung?
Zur Lösung des Widerspruchs muß man den Aphorismus 32 "Ungerechtsein
notwendig", der zwischen den genannten steht, miteinbeziehen, in dem klarer als
anderswo anklingt, was Nietzsche später Perspektivismus nennt: Hier spricht er von der
"Unreinheit" des Urteilens, die unvermeidlich sei. Um z. B. einem Menschen wirklich
gerecht zu werden, müsste man eine vollständige Erfahrung von ihm haben, was jedoch
unmöglich ist - um der Gerechtigkeit willen sollte demnach der Mensch besser
überhaupt nicht urteilen, was er jedoch auch nicht kann. Da er den anderen immer
durch seine individuelle Optik betrachtet, die von Stimmungen, Trieben, Zu- und
Abneigungen etc. gefärbt ist, ist Ungerechtsein notwendig. (Hieran anknüpfend wird
Nietzsche später lehren, man solle sich der Gerechtigkeit annähern, indem man die
jeweilige Perspektive zu einer umfassenderen hin überschreitet und auf diese Weise
möglichst viele Perspektiven beherrscht.)
Die Problematik des schon erwähnen Aphorismus 33 ist ähnlich: Auch hier geht es um
das unvermeidliche "unreine Denken", allerdings nicht bezogen auf einen einzelnen
Menschen, sondern auf den Wert des Lebens generell. Durch dieses "unreine Denken"
sei kein Individuum fähig, das ganze Leben und Leiden der Menschheit zu erfassen - es
sehe nur sich selbst, oder es zähle zu den selteneren Menschen, die über die
Menschheit im allgemeinen reflektieren, diese jedoch betrachteten dabei entweder nur
einzelne Ausnahme-Menschen oder eine Abstraktion der Menschheit, bei der gerade
die egoistischen Triebe übersehen würden. Nur durch diese "Unreinheit" könne
überhaupt der Glaube an den Wert des Lebens bestehen, sonst müßte der Mensch
daran verzweifeln. - Dieser Text ist bemerkenswert, weil er zeigt, daß Nietzsche immer
noch den Pessimismus vertritt, der in der "Geburt der Tragödie" und in der
kosmologischen Dämonen-Legende von "Über Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" dominierte. Aber er stellt jetzt nicht mehr die Kunst als den
Weg aus der Verzweiflung dar: Zwar schildert er als einen Weg aus der Verzweiflung
das Gefühl, sich als Menschheit ebenso vergeudet zu fühlen wie die einzelne Blüte in
der Natur,
aber er fügt ironisch hinzu, daß nur ein Dichter dazu fähig wäre, "und
Dichter wissen sich immer zu trösten". Hier unterstellt Nietzsche den Dichtern also
Unredlichkeit, und aus diesem Grunde empfiehlt er nun einen anderen Weg aus der
Verzweiflung (im folgenden Aphorismus 34 "Zur Beruhigung", mit dem das 1.
Hauptstück von "Menschliches, Allzumenschliches" endet): die Abschwächung der
Affekte durch reinigende Erkenntnis, bis man unter den Menschen wie in der Natur
ohne Lob, Vorwürfe und Ereiferung lebt und das "freie, furchtlose Schweben über
Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge"
als wünschenswertester
Zustand erscheint. Dieses Ideal erinnert an die stoische Ataraxia oder
die buddhistische "Befreiung" (Moksha) - von Schopenhauers Resignation unterscheidet
es sich hingegen durch Nietzsches Voraussetzung, nur eine "frohsinnige Seele" könne
diesen Zustand erreichen. Von hier aus führt ein direkter Weg zu Nietzsches späterer
Lehre des "amor fati".
Damit stellt sich erneut die Frage der Erkenntnis: Kann der Mensch überhaupt etwas
erkennen, da er doch in seiner Perspektive "gefangen" ist?