5.2. Nietzsches Hinwendung zu einer wissenschaftlichen Philosophie
Gleich im ersten Abschnitt von "Menschliches, Allzumenschliches" stellt Nietzsche klar,
um was es ihm von nun an gehen soll: um eine "Chemie der Begriffe und
Empfindungen".
In einer deutlichen Distanzierung
von seiner früheren
Wissenschaftskritik nimmt Nietzsche sich jetzt eine Naturwissenschaft, die Chemie, zum
Vorbild - anders formuliert: Nietzsche verläßt die Perspektive des
Wissenschaftskritikers und experimentiert mit der Optik des Wissenschaftlers. Wie die
Chemie beschäftigt sich auch die Philosophie mit der Frage, wie etwas aus seinem
Gegensatz entstehen, bzw. scheinbar entstehen kann, so z. B. Vernünftiges aus
Vernunftlosem, oder Altruismus aus Egoismus. Wenn nun die "historische Philosophie"
derartige Probleme untersucht, wird sie vermutlich immer entdecken, daß die
vermeintlichen Gegensätze gar keine sind, sondern nur Sublimierungen - so gibt es
weder "unegoistisches Handeln" noch "interesseloses Anschauen", sondern Egoismus
und Interesse sind hier nur sublimiert. Nach dem Vorbild des Chemikers soll der
historische Philosoph die Zusammensetzung und Entstehung der moralischen, religiösen,
ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen untersuchen. Das bedeutet nicht, daß
Nietzsche in einer neuentdeckten Begeisterung für Naturwissenschaft den Bereich der
Philosophie verlassen wolle (wie es in manchen Darstellungen jener sogenannten
"positivistischen Phase" Nietzsches anklingt) - er will aber von nun an die philosophi-schen
Probleme mit seiner genealogischen Methode untersuchen.
Doch auch eine entscheidende Kontinuität wird in "Menschliches, Allzumenschliches"
sichtbar: Immer noch geht es Nietzsche vorrangig um die Frage, was zur Entwicklung
einer hohen Kultur nötig ist. Aber während er noch 1874 meinte, eine Kultur erfordere
Metaphysik und Kunst, auch wenn diese auf dem Schein beruhen, so schreibt er jetzt
das Gegenteil:
"Es ist das Merkmal einer höheren Kultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche
mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen als die beglückenden und
blendenden Irrtümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen
entstammen."
Jene unscheinbaren, mit strenger Methode gefundenen Wahrheiten haben den Vorteil
der Dauerhaftigkeit, sie liefern die Grundlage für weitere Erkenntnisse - anders als die
erhabenen metaphysischen Symbole und Formen, die in früheren Zeiten dominant
waren.