Zusammenfassung

Wir kommen zu folgendem Resümée:

 - Mit der "Geburt der Tragödie" verfolgte Nietzsche die Intention, zur Erneuerung der deutschen Kultur beizutragen, wobei Richard Wagner sein Ideal war. Diese Erneuerung konnte nur im Zeichen der Musik erfolgen, wofür Nietszche die Metapher des "Dionysischen" prägte. In der Nachfolge Schopenhauers entwickelt er eine Metaphysik, in der die Musik (im Gegensatz zur Sprache) ein direktes Symbol des "Willens", des "Dinges an sich", ist. Dem Vorwurf der "Wissenschaftsfeindlichkeit", die Nietzsche hier angeblich vertrete, muß widersprochen werden: Nietzsche stellt fest, daß die Entstehung des wissenschaftlichen Denkens bei den Griechen, die das tragische Zeitalter beendete, auch das Resultat einer instinktiven Kraft war, und daß Sokrates' Fehler nur das Unvermögen war, die Vernunft auch gegen sich selbst zu richten, wodurch er zur "tragischen Erkenntnis" hätte gelangen können, also zu einer künstlerischen Wissenschaft. Nietzsche plädiert nicht für Wissenschaftsfeindlichkeit, sondern für die Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst, für den "musiktreibenden Sokrates".

- In den Notizen des Jahres 1872 fordert Nietzsche, die "tragische Erkenntnis" müsse die Werte schaffen, nach denen sich Naturwissenschaft und Historie orientieren sollen. Er schwankt nun immer wieder zwischen Aufklärung und (wohl noch unter dem Einfluß Wagners) Metaphysik. Gedankenexperimente, bei denen das Ding an sich auf naturwissenschaftlichem Wege erkannt werden soll, scheitern, woraufhin Nietzsche die Konzeption des Dinges an sich generell verwirft.

- In der kleinen Schrift "Ueber das Pathos der Wahrheit" stellt Nietzsche am Beispiel Heraklits die Wahrheit als eine Illusion dar, die jedoch zum Leben notwendig ist. Die Kunst bejaht die Gebundenheit des Menschen an die Illusion, die Erkenntnis hingegen will ihn davon befreien, verstrickt sich jedoch selbst darin. Diese Gedanken führt Nietzsche in "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" weiter aus: Hier wird die Erkenntnis zunächst als reines Instrument des Menschen im Überlebenskampf dargestellt. Die "Wahrheit" leitet Nietzsche aus der Moral, aus gesellschaftlicher Konvention ab, als die Verpflichtung, Sprache in konventionell festgelegter Weise zu verwenden. Die Begriffe sind Abstraktionen einmaliger Urerlebnisse, Metaphern, deren metaphorischer Charakter von den Menschen vergessen wurde und die nun als Wiedergabe der "Realität" gelten. Es ist die spezifische Eigenheit des Menschen, aus diesen Metaphern "Begriffsdome" zu errichten, und "Wahrheit" ist die richtige Einordnung eines Begriffes innerhalb dieses Gebäudes - nur in dieser Bedeutung kann überhaupt sinnvoll von "Wahrheit" gesprochen werden. Die Vernunft ist das Spiel mit den Metaphern innerhalb des anthropomorphen Begriffsdomes, weshalb man auch mit ihrer Hilfe die anthropomorphe Perspektive nicht ablegen kann.
 Die Begriffe dienen aber nicht nur zur Lebensbewältigung, darüber hinaus hat der Mensch einen ureigenen Hang, sich täuschen zu lassen, und so läßt er dem intuitiven Spiel mit den Metaphern freien Lauf, solange diese Täuschungen nicht schaden. Nietzsche stellt hier wiederum den intuitiven Menschen gegen den vernünftigen Menschen: Wenn der intuitive Mensch die Oberhand gewinnt, kann sich eine Kultur entfalten. Ähnlich wie in der "Geburt der Tragödie" vertritt Nietzsche also auch hier die Ansicht, daß erst die Kunst das Leben erträglich macht. Im Unterschied zu seinem früheren Buch fehlt jetzt jedoch die dionysische Willens-Metaphysik vollkommen.

- In "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" verknüpft Nietzsche die beiden Begriffe Wahrheit und Gerechtigkeit miteinander. Sein Wahrheitsbegriff ist hier also ein anderer als in "Wahrheit und Lüge": Gerechtigkeit hat mit "Objektivität" nichts zu tun. Der Gerechte ist der Mensch der tragischen Erkenntnis, der nach Wahrheit strebt, im Bewußtsein, sie doch nie vollkommen erreichen zu können.
Nietzsche kritisiert dann die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung um jeden Preis: Illusion sei keineswegs generell verwerflich, denn alles Lebendige benötige eine Atmosphäre des Geheimnisvollen. Auch hier geht es Nietzsche letztlich wieder um die Bedingungen eines kulturellen Lebens. Die Konsequenzen, die in dem Fragment "Über Wahrheit und Lüge" fehlen, werden nun formuliert: Die Erkenntnis, daß jegliche Wahrheit anthropomorph ist, führt zu einer radikalen Skepsis, in der niemand leben kann, und deshalb müsse der Mensch diese Skepsis wieder vergessen. Er müsse die ganze "Welt an sich", die ihn nichts angehe, verachten lernen, um sich allein der menschlichen Kultur zu widmen.
In "Schopenhauer als Erzieher" kritisiert Nietzsche eine Wissenschaft, die vermeintlich nach "Objektivität" strebt und sich in eine folgenlose Isolation begeben hat. Wiederum stellt er die "tragische Erkenntnis" und den Willen zur Wahrhaftigkeit dagegen. Allein das Streben nach Gerechtigkeit ist für Nietzsche ein akzeptabler Grund, Wissenschaft zu treiben.

 - In "Menschliches, Allzumenschliches" vollzieht Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner einen entscheidenden Perspektivenwechsel: Er verwirft nun die noch in "Schopenhauer als Erzieher" vertretene Ansicht, Metaphysik sei für die menschliche Kultur unverzichtbar. Sein Ideal wird nun der "freie Geist", der mit unterschiedlichen Perspektiven experimentiert, um so möglichst vielen Erkenntnis-Perspektiven Gerechtigkeit angedeihen zu lassen Nach diesem Prinzip nimmt Nietzsche nun eine wissenschaftliche Perspektive ein und fordert ein "historische Philosophie", die mit strenger genealogischer Methode die Enstehung der menschlichen Vorstellungen untersucht. Mit dieser Methode könnten kleine "Wahrheiten" (im Sinne der gerechten Wahrheit) gefunden werden, die Nietzsche jetzt eindeutig höher bewertet als metaphysische und künstlerische Illusionen. Es geht ihm zwar immer noch um die Frage der Entwicklung einer hohen Kultur, aber nun sieht er die Möglichkeit einer Kultur des "freien Geistes". Obwohl Nietzsche seinen früheren Pessimismus aufrechterhält, verwirft er nun die Flucht in die Kunst als unaufrichtig, stattdessen empfiehlt er ein freies, unerschütterliches Schweben über den Menschen und Dingen, das an die stoische Ataraxia erinnert.
Erstmals vertritt Nietzsche nun öffentlich seine Gedanken aus "Über Wahrheit und Lüge": Er entwirft eine evolutionäre Erkenntnistheorie, wonach der Mensch in seiner Erkenntnis an die Gattungsperspektive gebunden ist, und alles, was hinter diesem Horizont liege, sei für ihn bedeutungslos.
Von seiner früheren Kritik an der zeitgenössischen Wissenschaft nimmt Nietzsche ausdrücklich nichts zurück. Die wissenschaftliche Kultur, für die er sich ausspricht, muß erst in der Zukunft errichtet werden - die zeitgenössische Wissenschaft hat mit ihr nichts zu tun.
Der freie Geist benötigt die Metaphysik nicht mehr, aber das besagt nichts für die Gesellschaft - für sie ist weiterhin die Metaphysik notwendig. Hier gerät Nietzsche in eine Ambivalenz, die sich durch sein ganzes späteres Werk ziehen wird: Soll der freie Geist sich in die Einsamkeit zurückziehen, oder versuchen, auf die Gesellschaft einzuwirken?

 - Ein abschließender kurzer Blick auf Fragen der aktuellen Nietzsche-Forschung ergab, daß man aus der Perspektive der analytischen Philosophie Nietzsche nicht gerecht wird, während ein "ökophysiologischer" Ansatz vielversprechend erscheint.