Die homerische Sprache

Wie Bruno Snell feststellte, gibt es in den homerischen Epen keinen Begriff für den menschlichen Körper. Das Wort swma ("sôma") bezeichnete nur den toten Körper, die Leiche. demaV ("démas") bedeutet soviel wie "an Gestalt" und wurde nur in Verbindung mit "groß", "klein" etc. verwendet. Ansonsten verwendete Homer die Wörter für "Glieder", guia ("gyîa") und melea ("mélea"), zur Bezeichnung des gesamten Körpers, auch crwV ("chrôs"), der Ausdruck für die Hautoberfläche, kommt vor.

Als Begriffe für das geistig-seelische Leben des Menschen finden sich bei Homer die Wörter yuch ("psyché"), qumoV ("thymós") und nooV ("nóos"). Wie beim Körper gibt es also auch hier keinen einheitlichen Begriff für das menschliche Innere, vielmehr agieren psyché, thymós und nóos als selbständige und voneinander unabhängige Kräfte.

Daraus zieht Snell die Schlußfolgerung, daß sich der homerische Mensch in seinem Selbstgefühl grundlegend vom modernen Mensch unterschied: Er besaß kein zentrales Ich als autonom urteilende und entscheidende Instanz, stattdessen empfand er den thymós oder den nóos als Auslöser seiner Handlungen. Außergewöhnliche Ideen und Taten wurden auf das Eingreifen eines Gottes zurückgeführt. So trafen die homerischen Helden zwar Entscheidungen, aber sie waren sich nicht dessen bewußt, daß sie diese Entscheidungen trafen, und daß es ihre eigenen Entscheidungen waren.

Gegen Snells These wird gelegentlich der Einwand erhoben, daß es sich dabei um eine fragwürdige Argumentation ex silentio handele: Allein daraus, daß die homerischen Griechen keine Wörter für "Selbstbewußtsein", "Ich" usw. gehabt hätten, ließen sich keine weitreichenden Schlußfolgerungen ziehen - es gebe auch für das deutsche Wort "Schadenfreude" in der englischen Sprache keinen entsprechenden Ausdruck, aber das heiße nicht, daß das entsprechende Gefühl einem Engländer fremd wäre. Dieser Einwand trifft jedoch nicht, denn es handelt sich nicht um das einfache Fehlen eines Wortes, vielmehr stellt Snell fest, daß der gesamte Prozeß der menschlichen Entscheidungsfindung bei Homer fundamental anders dargestellt wird als in späterer Zeit: Das ist keine Argumentation ex silentio.

Eine fundierte kritische Auseindersetzung mit Snell gibt jetzt Christopher Gill in seinem Buch "Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy" (1996).

Weitergeführt wurden Snells Thesen von E. R. Dodds in "Die Griechen und das Irrationale" (1951). Snells Einfluß auf Julian Jaynes ist umstritten.