Auch E. R. Dodds stellt in seinem erstmals 1951 erschienenen Buch die
Frage nach der Mentalität der alten Griechen und den Unterschieden
zum Bewußtsein des modernen Menschen. Er beginnt seine Untersuchung
mit dem ältesten uns zugänglichen Zeugnis der Griechen, der Ilias,
und erarbeitet eine psychologische Studie am Beispiel von Agamemnons Rechtfertigung
gegenüber Achilles (Il.19,78ff.). Weitere Kapitel behandeln den Übergang
von der archaischen "Schamkultur" zu "Schuldkultur" der klassischen Epoche,
Wahnsinn und Traum, den Einfluß des vorderasiatischen Schamanismus'
auf die Griechen oder okkult-mystische Strömungen der hellenistischen
Epoche.
Mich interessiert vor allem das erste Kapitel "Die Rechtfertigung des
Agamemnon". In der Ilias argumentiert Agamemnon, nicht er sei der eigentliche
Verursacher seines Handelns gewesen, sondern Zeus, der ihm seinen Verstand
genommen habe. Dies darf nicht als oberflächlicher Versuch, die Verantwortung
von sich zu schieben, gelesen werden, denn Agamemnon übernimmt bereitwillig
die geforderte Buße, und auch sein Kontrahend Achilleus teilt mit
ihm die Ansicht, daß letztlich Zeus Auslöser der Handlungen
gewesen sei. Daneben finden sich in der Ilias andere Stellen, an denen
ebenfalls berichtet wird, Zeus habe den Verstand eines Menschen weggenommen
oder betört. In der Odyssee läßt sich noch deutlicher erkennen,
daß außergewöhnliche Gedanken, seien sie nun außergewöhlich
klug oder außergewöhnlich dumm, sowie überraschende Erkenntnisse,
daß praktisch sämtliche unerwartet eintretenden Gehirnaktivitäten
auf eine Gottheit oder einen Dämon zurückgeführt.werden.
Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um eine literarische Konvention,
sondern um eine den damaligen Griechen selbstverständliche Geisteshaltung:
Plötzlich ist ein Gedanke oder ein Impuls da, der vorher nicht da
war, wie aus dem Nichts ist er aufgetaucht. Und weil er nicht in "mir"
war, muß er von "außen" gekommen sein. Was der moderne Mensch
als Aktivität seines eigenen Ich ansehen würde, blieb dem homerischen
Griechen eine fremde Kraft. Sie wurde oft auch im buchstäblichen Sinne
als "Stimme" wahrgenommen, als deren Quelle z.B. der eigene thymos
oder aber auch eine Gottheit identifiziert wurde. Hierin stimmt Dodds mit
Julian Jaynes überein (zu dem es ansonsten aber entscheidende Unterschiede
gibt), vor allem aber mit Bruno Snell: Das Innenleben
des homerischen Menschen wurde nicht von einem einheitlichen "Ich" dominiert.