Christopher Gill, "Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy"
(Oxford 1996)

Christopher Gill will in seinem Buch das antike griechische Persönlichkeitsmodell mit moderner Bewußtseinsphilosophie kombinieren. Er kritisiert Bruno Snell, weil dieser von einem natürlichen Entwicklungsprozeß von den Griechen zu unserer Gegenwart ausgehe, anstatt die Griechen und die Moderne als verschiedene, aber gleichwertige Modelle zu verstehen - darin zeige Snell eine hegelianische Sicht der Geistesgeschichte. (Hier urteilt Gill meiner Ansicht nach zu einseitig: Es ist kein Hegelianismus, wenn man von der Frage ausgeht, warum der moderne Mensch so geworden ist, wie er ist, und warum er anders denkt als der homerische Grieche - eine Abwertung des Griechen ist damit keineswegs verbunden.)

Gill versteht es als Kritik an Snell, wenn er feststellt, diejenigen psychischen Konzepte, die Snell bei Homer vermisse, seien gerade die, deren universelle Gültigkeit von modernen Kognitionsforschern am stärksten bezweifelt würden. Mir erscheint jedoch die Frage, warum sich diese psychischen Konzepte in unserer Zivilisation herausgebildet haben, nach wie vor berechtigt und interessant.

Werden in den homerischen Dialogen bewußte oder unbewußte Denkprozesse dargestellt? - Eigentlich sind es bewußte, aber anders als im cartesianischen Modell sind sich die Helden ihrer selbst dabei nicht bewußt. Der Denkprozeß nimmt die Gestalt eines inneren Dialogs über ein bestimmtes Problem an. Davon ausgehend formuliert Gill sein Modell des Geistes, in dem sich verschiedene psychische Elemente miteinander im Dialog befinden. So ist z.B. der Hektor-Monolog in Ilias 22,99-130 ein innerer Dialog mit einem "internalisierten Anderen", der gewissermaßen die Personalisierung des "Trojaners an sich" darstellt. Hektors Handlungs-Motivierung vollzieht sich innerhalb dieses inneren Dialogs, der ein einheitliches Ich-Bewußtsein ersetzt. - Achilles' inkonsequenten und widersprüchlichen Entschlüsse im 9. Buch der Illias, die für Snell ein Argument dafür sind, daß Homer keine persönlichen Entscheidungen kenne, interpretiert Gill ganz anders: Entscheidungen entstehen bei Homer immer nur im interpersonellen Austausch, und bei einer neuen Personenkonstellation kann das zu einer ganz anderen Entscheidung führen. Ist kein reales Gegenüber anwesend, wird der Dialog ins eigene Innere verlagert (die Situationen, in denen die homerischen Helden die typischen Selbstgespräche führe, sind Situationen, in denen sie ausnahmsweise isoliert sind).

Als Alternativen zu Snell können zeitgenössische nicht-cartesianische Kognitionstheorien angeführt werden, die den Menschen nicht als einheitliches, selbstbewußtes Ich voraussetzen: Daniel Dennett definiert (in Anlehnung an Harry Frankfurt) die Person als ein Wesen, das nicht allein aufgrund von Wünschen handelt, sondern aufgrund von Wünschen zweiter Ordnung (= Wünsche nach Wünschen). Man wünscht, daß ein anderer etwas wünschen soll, argumentiert und überredet ihn deshalb, und so redet man auch zu sich selbst wie zu einer anderen Person. Dennett versteht also Selbst-Reflexivität nicht als Ausdruck eines Selbstbewußtseins, sondern als die Verinnerlichung sozialer Praktiken der gegeseitigen Überredung.

Ein anderer nicht-cartesianischer Ansatz, vorgeschlagen von R. W. Sharples ("But Why Has My Spirit Spoken With Me Thus?": Homeric Decision-Making; in: Greece and Rome 30, 1983), versteht die homerischen Selbstgespräche in Begriffen von Selbst-Identifikation und Selbst-Distanzierung. In diesem Sinne interpretiert Gill den Monolog des Odysseus in Odyssee 20, in dem Odysseus sein "Herz" anredet, als ein besonders herausragendes Beispiel für gleichzeitige Selbst-Identifikation und Selbst-Distanzierung, und er erklärt jede Interpretation (z.B. Snells) für unzureichend, die diesen Aspekt nicht berücksichtigt.