2.3. Über das Pathos der Wahrheit
2.3.1. Nietzsches Wahrheitsbegriff und sein Zusammenhang mit Heraklit
Eine zentrale Figur in Nietzsches Denken während
der Jahre 1872/73, auch wenn sie nicht immer explizit genannt wird, war Heraklit.
Nietzsche beschäftigte sich ausführlich mit ihm in der Schrift
"Ueber das Pathos der Wahrheit", der ersten der "Fünf Vorreden zu fünf
ungeschriebenen Büchern", die Nietzsche Cosima Wagner 1872 zu Weihnachten
schenkte. Fast wörtlich, nur mit wenigen (interessanten) Auslassungen,
bildet dieser Text den Kern des Heraklit-Abschnittes in der Schrift "Die
Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", die Nietzsche wenige Monate
später verfaßte und im April 1873 nach Bayreuth mitbrachte.
Das
Thema der Schrift "Ueber das Pathos der Wahrheit" ist zunächst der Ruhm
- vielleicht war er Gegenstand der mündlichen und brieflichen Fragen
Cosima Wagners, auf die Nietzsche sich in der Widmung
bezieht. Vom Ruhm kommt Nietzsche schnell auf den großen Einzelnen,
den einsamen Philosophen, der ein Vorbild durch die Jahrtausende hindurch
darstellt. "Er hat die Wahrheit; mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will,
nie wird es der Wahrheit entfliehen können."
Nietzsches Wahrheitsbegriff
scheint hier bestürzend unkritisch zu sein. Der Philosoph "hat die Wahrheit"
- konnte man so etwas hundert Jahre nach Kant erkenntnistheoretisch ernst
meinen? Wohl kaum, und Nietzsche erst recht nicht, Wie ist aber dann diese
Aussage zu verstehen? Verständlich wird der hier zu findende Wahrheitsbegriff
nur, wenn man den Kontext berücksichtigt. Es geht dann nicht um die
Frage: Was kann der Mensch wissen? Die Frage lautet vielmehr: Was ist die
menschliche Kultur? Nietzsche antwortet mit seiner bekannten Metapher des
Gebirges - die "großen Momente" bilden eine Kette, die als Höhenzug
die Menschheit durch die Jahrtausende hindurch verbindet. Dieser Höhenzug
ist die Kultur. Sie ist als Ganzes unsterblich, zugleich jedoch angewiesen
auf sterbliche menschliche Gehirne, in denen sie lebt. Diese Spannung zwischen
Ewigkeit und Sterblichkeit erzeugt einen Kampf, denn die Alltagsnöte
beanspruchen die ganze Aufmerksamkeit des Menschen und wollen die Kultur
hemmen - dadurch sind die meisten Menschen völlig beherrscht von den
"kleinen" Alltagsproblemen, aber immer wieder gibt es einige, die sich dem
"Großen" Widmen, und die so die Kultur weitertragen.
Nietzsche weiß
sehr wohl, wie verdächtig der Glaube an die Wahrheit in der modernen
Erkenntnistheorie ist:
"An sich scheint ja jedes Streben nach Erkenntniß,
seinem Wesen nach, unbefriedigt und unbefriedigend; deshalb wird Niemand,
wenn er nicht durch die Historie belehrt ist, an eine so königliche
Selbstachtung, an eine so unbegränzte Überzeugtheit, der einzige
beglückte Freier der Wahrheit zu sein, glauben mögen."
Aber die
Geschichte zeigt eben, daß eine solche Selbstachtung doch möglich
war, und Nietzsches Beispiel hierfür ist Heraklit. Es ist faszinierend,
auf einer Seite dann gleich mehrere Schlüsselbegriffe Nietzsches zu
finden: Heraklit behandelte sich ebenso wie Pythagoras und Empedokles mit
einer "übermenschlichen" Selbstachtung, im Unterschied zu jenen beiden
war er jedoch frei vom "Band des Mitleidens", weshalb er sich nicht verpflichtet
fühlte, die soziale Gemeinschaft zu bessern oder zu ändern. Von
einem kaum nachfühlbaren, abgründigen "Gefühl der Einsamkeit"
beseelt, zog er sich in den ephesischen Artemis-Tempel zurück, um allem
Alltagstreiben zu entfliehen - ein "Gestirn ohne Atmosphäre", eine "tragische
Larve", die anderen Menschen unverständlich, ja unglaublich war.
Jeder
Kenner der Biographie Nietzsches sieht, wie sehr sich Nietzsche selbst mit
dieser Beschreibung identifizieren konnte: Unter der Maske Heraklits zeichnete
er ein anschauliches Selbstbildnis. Es ist jedoch zugleich das Bild eines
Ideals, dessen Verwirklichung ihm nicht vollständig gelang, denn die
Frage der unbegrenzten Selbstachtung blieb eine offene Wunde, die sich nicht
schließen ließ. Der Glaube, Wirklich der "Freier der Wahrheit"
zu sein, wurde immer wieder von Zweifeln untergraben. Und so schlägt
in Nietzsches Loblied auf Heraklit der Tonfall abrupt um, die Perspektive
ändert sich radikal. Zunächst heißt es noch: "die Welt braucht
ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit", doch dann verschiebt
sich die Optik und es wird deutlich, daß die vorangegangenen Sätze
der Perspektive Heraklits entsprachen: "seine Eigenliebe ist die Liebe zur
Wahrheit - und eben diese Wahrheit sagt ihm, daß ihn die Unsterblichkeit
der Menschheit brauche, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit."

