2.2.2.3. Nietzsches These zur möglichen Erkenntnis des Dinges an sich durch die Naturwissenschaften

In den Notizen finden sich auch einige überraschende Aufzeichnungen, in denen Nietzsche spekuliert, die Welt der Erscheinungen, der Gedanken könne das Wesen der Dinge sein. Hierbei handelt es sich wohl um Gedankenexperimente, die Nietzsche später nicht weiter verfolgte, die aber interessante Einblicke in seine erkenntnistheoretische Entwicklung gewähren.

In diesen Gedankenexperimenten wird behauptet, daß die Formen des menschlichen Intellekts doch der Wahrheit adäquat seien. Die Dinge spiegelten sich angemessen im Menschen wieder - der Spiegel sei den Dingen nicht fremd, denn er sei langsam entstanden und dabei den Dingen immer adäquater geworden: Auf diese Weise habe sich der Mensch allmählich vom allzu Anthropomorphischen befreit. (Die Einwände dagegen sind bekannt, und sollten bald auch von Nietzsche selbst erhoben werden: Auch wenn der Mensch immer differenziertere Erkenntnisse über seine Umwelt sammelt, so kann er dabei doch den menschlichen Horizont nicht überschreiten, von einer Annäherung an das "Ding an sich" oder das "Wesen der Dinge" kann keine Rede sein - alle "Wahrheiten", die der Mensch gewinnt, sind menschliche Wahrheiten, keine Wahrheiten des Dinges.)

Eine der merkwürdigsten Notizen lautet: "Es wirkt nicht etwa Gedanke auf Gedächtniß, sondern der Gedanke durchläuft zahllose feine Metamorphosen, d. h. dem Gedanken entspricht ein Ding an sich, das nun das analoge Ding an sich im Gedächtniß erfaßt." Nietzsche meint damit wohl, daß es analog zum Ding an sich ein bestimmtes Empfindungsmuster im Gehirn gäbe, das ebenfalls den Status eines "Dinges an sich" beanspruchen könne. Dieses Muster wird gebildet von den Gedanken, weshalb von ihnen nicht gesagt werden könne, sie würden auf das Gedächtnis einwirken. Nietzsche hat zwar recht, wenn er das simple Kausalmodell Ding => Gedanke => Gedächtnis als zu einfach ablehnt, aber seine Alternative ist zu unklar, um als Verbesserung zu taugen.

In der "Geburt der Tragödie" meinte Nietzsche noch, der einzige Zugang zur "Welt an sich", zum Dionysischen, sei die Musik. Jetzt spekuliert er in seinen Notizen, die Naturwissenschaften könnten zur Erkenntnis des Dinges an sich führen, er versucht sich also als Positivist. Zunächst stellt er kantianisch fest, die Materie sei nur Außenseite, in Wahrheit aber etwas ganz anderes; der nächste Gedankenschritt lautet (hier folgt Nietzsche noch Schopenhauer): Die menschlichen Sinne und der Geist sind Produkte der Materie und der Dinge. Und daraus zieht Nietzsche dann die erstaunliche Schlußfolgerung: "man muß von den Naturwissenschaften aus zu einem Ding an sich kommen". Seine Argumentation enthält jedoch einen logischen Fehler, denn wenn die Materie in Wahrheit etwas anderes ist, können Sinne und Geist nicht ihre Produkte sein. Wie könnte ein Schein etwas produzieren? Entweder sind Sinne und Geist auch Schein, was philosophisch absurd ist, oder aber Sinne und Geist sind Produkte jenes "ganz anderen" (also doch "Dionysos"), womit wieder jegliche Erkenntnismöglichkeit eines Dinges an sich durch die Naturwissenschaften negiert werden muß.