Zur Verteidigung der Gemeinwohl-Ökonomie gegen einige ihrer Kritiker
von Kolja Mendler


Die Idee einer Gemeinwohlökonomie als Alternative zum Kapitalismus entwickelt sich gerade zu einer Erfolgsgeschichte, die immer mehr Anhänger gewinnt. Aber es melden sich auch Kritiker zu Wort - erstaunlicherweise nicht aus den Reihen der neoliberalen Ökonomen oder der Finanzmärkte, die als die natürlichen Gegner der GWÖ anzusehen sind, sondern aus den eigenen Reihen der Kapitalismuskritiker.

Da ist vor allem Andreas Exner, der die GWÖ und ihren "Vordenker" Christian Felber in mehreren Online-Artikeln kritisiert hat. Die Heftigkeit seiner Angriffe (u.a. deutet er Parallelen zwischen Christian Felber und Hitler an) ist nur durch persönliche Motive zu erklären, über die ich hier nicht weiter spekulieren will.

Aber neben jener aggressiven Polemik sind einige von Exners Kritikpunkten durchaus ernstzunehmen. Nur bedingt gilt dies allerdings für seinen Versuch, einen künstlichen Antagonismus zwischen der Gemeinwohlökonomie und der sogenannten "Solidarischen Ökonomie" aufzubauen. Interessanterweise sind die Beispiele, die Exner für die Solidarische Ökonomie anführt (z.B. die baskische Genossenschaft Mondragon), teilweise genau dieselben, die Felber als bereits existierende Beispiele für Gemeinwohlökonomie nennt. Exner führt dies darauf zurück, dass Felber versuche, die Solidarische Ökonomie zu "vereinahmen". Aber wenn dies so wäre, wenn Felber also nur das Etikett "Gemeinwohlökonomie" auf die Solidarische Ökonomie klebt - wie könnte dann gleichzeitig zwischen ihnen ein Gegensatz bestehen, wie könnte die Gemeinwohlökonomie eine reine Utopie sein, die Solidarische Ökonomie hingegen den Kapitalismus im Hier-und-Jetzt überwinden (wie Exner schreibt, SÖsGÖ 10 %)? Entweder Vereinnahmung oder Gegensatz: Beides gleichzeitig geht nicht.

Der Vorwurf der Vereinnahmung findet sich auch in der Kritik von Brigitte Kratzwald: "Manche der VertreterInnen der GWÖ (nicht alle!) tendieren dazu, zu behaupten, sie hätten schon alle anderen Alternativen integriert. So nach dem Motto "wir haben den richtigen Weg gefunden, ihr braucht uns nur noch zu folgen"." (Kratzwald 40 %) Dies wäre in der Tat so nicht akzeptabel. Aber ich glaube, dieser Eindruck wird vor allem von dem vielleicht etwas unglücklich gewählten Untertitel von Christian Felbers Buch "Gemeinwohlökonomie -  Das Wirtschaftsmodell der Zukunft" erzeugt. Schon auf der Buch-Rückseite heißt es viel weniger ausschließlich, die GWÖ sei "ein Wirtschaftsmodell mit Zukunft". Aber wie dem auch sei, man sollte diese Formulierungen nicht überbewerten, die vermutlich gar nicht von Christian Felber stammen, sondern von irgendeinem Verlags-Werbetexter.

Ebenfalls unglücklich ist eine sprachliche Ungenauigkeit, die Felber in seinem Buch unterlaufen ist, wenn er einerseits jede Wirtschaftsweise, die nicht profitorientiert ist (wie eben die Mondragon-Genossenschaft), als Gemeinwohlökonomie bezeichnet, andererseits aber mit diesem Begriff jenes spezifische, von ihm entworfene Wirtschaftsmodell meint. Zu berücksichtigen bleibt hier aber immer: "Die Gemeinwohl-Ökonomie ist kein vollendetes Modell, vielmehr sollen die Details erst in demokratischen Prozessen festgelegt werden" (Felber S.9). Ich denke, dies ist ein sehr wichtiger Punkt, und wenn jemand im Ernst glaubt, die GWÖ sei der einzige "richtige Weg", dann hätte er etwas ganz Entscheidendes nicht verstanden: In dem Buch von Christian Felber steht nicht das endgültige Konzept der Gemeinwohlökonomie, sondern es enthält nur Vorschläge dazu. Was die Gemeinwohlökonomie sein wird, soll in einem umfassenden demokratischen Prozess diskutiert und beschlossen werden; da können dann also nicht nur Christian Felber und die eingeschworenen GWÖ-Fans ihre Ideen einbringen, sondern du, ich, wir alle! Es gehört zum Wesen der GWÖ, dass sie am Ende vielleicht dem Konzept von Christian Felber ähneln, vielleicht aber auch etwas ganz anderes sein wird.

Ein wichtiger Unterschied zwischen den verschiedenen Projekten der Solidarischen Ökonomie und der GWÖ ist deren gesamtgesellschaftliche Ausrichtung. Die Bewegung der Solidarischen Ökonomie ist ein Netzwerk verschiedenartiger Projekte, die meistens den Schwerpunkt auf ihre ganz konkrete, lokale Arbeit legen. Auch wenn die einzelnen Mitglieder durchaus den Wunsch nach einer grundlegenden Reform der gesamten Gesellschaft haben mögen, gibt es dafür kein eigentliches Konzept, diese Frage bleibt im Hintergrund. Hierin liegt die Gefahr, dass die Solidarischen Ökonomen sich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft Nischen schaffen, in denen sie ungestört vor sich hin werkeln können, und in denen sie vom Kapitalismus kaltlächelnd geduldet werden, weil sie für ihn keine ernstzunehmende Bedrohung darstellen. Es klingt deshalb ausgesprochen seltsam, wenn Andreas Exner schreibt: "Sie (= die Solidarische Ökonomie) ist im Unterschied zur "Gemeinwohl-Ökonomie" keine Utopie, sondern eine Realität im Hier-und-Jetzt." SÖsGÖ 10 %) Soll das bedeuten, dass Exner mit der herrschenden Realität (Kapitalismus mit einigen solidarischen Nischen) zufrieden ist? Natürlich sind die Projekte der Solidarischen Ökonomie Realität - aber eben eine Realität, die keine Tendenzen aufweist, die kapitalistische Gesellschaft als ganzes umgestalten zu können. Dies wäre Utopie, ja - aber die Gemeinwohlökonomie zeigt Wege, um diese Utopie zu verwirklichen.

Wenn Exner ferner meint, der GWÖ vorwerfen zu müssen, sie würde mit "Marketing"-Methoden immer neue Scharen von Fans anlocken, dann ist dies eigentlich kein Vorwurf gegen die GWÖ sondern gegen die Solidarische Ökonomie, die ja viel älter als die GWÖ ist: Warum hat sie denn in all den Jahren ihrer Aktivität es nicht geschafft, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken? Warum ist sie nach wie vor der breiten Öffentlichkeit komplett unbekannt? Die Solidarische Ökonomie hat als Konkurrenz-Projekt zur kapitalistischen Wirtschaft einen äußerst schweren Stand. Die bürgerlichen Medien ignorieren sie, Informationen über sie findet nur, wer ganz gezielt danach sucht (also schon Vorkenntnisse besitzt). In dieser Situation sollte man die (immer noch sehr begrenzte) neue Beliebtheit der GWÖ geradezu als Geschenk des Himmels betrachten, denn dieses "Marketing-Moment" ist genau das, was der Solidarischen Ökonomie fehlt, um tatsächlich eine ernste Bedrohung für den Kapitalismus zu werden.  - Oder will Andreas Exner vielleicht gar nicht die breite Öffentlichkeit erreichen? Genießt er es vielleicht eher, einer kleinen Elite anzugehören? Über seine weiteren polemischen Attacken zu diesem Thema (GWÖ-Fans = doof, Solidarische-Ökonomie-Anhänger = prima) will ich hier den gnädigen Mantel des Schweigens breiten.

An anderer Stelle stiftet Exner mit seiner Kritik bewusst Verwirrung, um z.B. Christian Felber Aussagen zu unterstellen, die tatsächlich bei ihm nicht zu finden sind. So vertauscht er wie ein geschickter Hütchenspieler Sätze zu Marktwirtschaft und Kapitalismus (NWiS 50 %): Da soll zuerst die GWÖ nicht mehr gewinnorientiert sein, dann irgendwie doch, dann "ist sich unser Autor jedoch nicht sicher, ob die Gemeinwohlökonomie nun eine nicht-kapitalistische oder eine kapitalistische ist" (wieso das?!), dann sollen Gewinne auf bestimmte Verwendungen begrenzt werden, um ein "Überschießen in den Kapitalismus" in eine sinnvollere Richtung umzulenken - um schließlich zu dem Resumée zu kommen: "Die Gemeinwohlökonomie ist also nach Aussage des Autors nicht nur eine Marktwirtschaft, sondern auch Kapitalismus." Wo er beim "Autor" allerdings diese "Aussage" findet, bleibt sein Geheimnis.
Wer dagegen die entsprechenden Passagen bei Christian Felber (S. 35) nachliest, wird entdecken, dass dort von der angeblichen Verwirrung keine Spur zu finden ist: Der Text geht davon aus, dass sich Unternehmen in der GWÖ in erster Linie auf das Gemeinwohl und nicht mehr auf den Gewinn orientieren sollen - also "gemeinwohlorientiert" und nicht mehr "gewinnorientiert". Der Gewinn ist demnach nicht mehr das vorrangige Ziel, aber nirgendwo ist davon die Rede, dass jetzt überhaupt keine Gewinne mehr gemacht würden. Da Gewinne sowohl nützliche wie schädliche Auswirkungen auf das Gemeinwohl haben können, sollen sie in der GWÖ allein auf die nützlichen Verwendungen begrenzt werden. Dies ist alles vollkommen klar, wo soll hier die Verwirrung sein? Und vor allem: Wo wird hier behauptet, die GWÖ sei Kapitalismus?

Ähnlich geht Exner vor, wenn er Felbers These kritisiert, wonach es in der kapitalistischen Wirtschaft Wachstumsdruck durch Zinsen gebe (NWiS 60 %). Dies ist ja auch völlig logisch und kaum zu leugnen: Ein Unternehmen nimmt als Startkapital einen Kredit auf, muss dafür Zinsen bezahlen und muss demzufolge zwangsläufig wachsen - ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben würde auch den Konkurs bedeuten, weil dann die Zinsen nicht gezahlt werden könnten. Exner schiebt Felber an dieser Stelle die These unter, dass jegliches Wachstum des Kapitals im wesentlichen auf den Zins zurückzuführen sei, und daran arbeitet er sich dann argumentativ ab. Auch hier "widerlegt" Exner also eine These, die Christian Felber nie aufgestellt hat. Und dies, obwohl er ein paar Sätze weiter unten selbst schreibt: "Andererseits nennt er als Ursachen des Wachstums die Erhöhung von Gewinnen, die Bedienung von Aktionären, die Behauptung in der Konkurrenz und der Schutz vor feindlichen Übernahmen (S.44)."

Es gibt noch andere Beispiele, bei denen Exners Kritik keinerlei Grundlage hat, z.B. wenn er schreibt: "Ein weiteres strukturelles Problem seiner Konzeption besteht darin, dass Gewinne und Einkommen begrenzt sind - würden dennoch Gewinne erwirtschaftet, die das erlaubte Maß überschreiten, müssten sie vernichtet werden. Eine Gewinnvernichtung würde wie eine Kapitalsteuer wirken, nur dass sie, im Unterschied zu dieser, auch dem Staat nicht zugute käme." (NWiS 75 %) Wie kommt er darauf? Wir erfahren es nicht, weil hier kein Quellenbeleg angegeben ist. Tatsächlich ist diese angebliche Gewinnvernichtung einfach Unsinn (wie sollte man sich die überhaupt vorstellen? Würde das Geld verbrannt?) - Christian Felber schreibt an mehreren Stellen, dass die über das erlaubte Maß erzielten Gewinne "weggesteuert" werden (z.B. S. 34: "sonst würden sie [die Gewinne] weggesteuert"), also sehr wohl dem Staat zugute kommen.

Noch ein Beispiel: "Die "Gemeinwohl-Ökonomie" sieht die Aufhebung der Trennung zwischen Management und Lohnabhängigen nur für den Fall des Todes der Unternehmerin oder des Unternehmers vor - sofern diese das auch wünschen. Die Belegschaft hat darin keine Stimme, gegen die Unternehmerschaft soll sie sich nicht durchsetzen können. Während die Vorteile einer solchen (erst Jahre oder Jahrzehnte später zu vollziehenden) "Umwandlung" eines "Gemeinwohl-Betriebs" in eine Genossenschaft schon zu Lebzeiten für die Unternehmer*innen geschäftlich fühlbar werden, müssen die Lohnabhängigen bis zum Tod des Eigentümers warten." (SÖsGÖ 60 %)
Dieser Abschnitt enthält buchstäblich nicht einen einzigen wahren Satz und verkehrt das erklärte Ziel der GWÖ, "dass Unternehmen von möglichst vielen, wenn nicht allen Personen besessen werden" (Felber S. 70), willkürlich in dessen Gegenteil. Tatsächlich fördert die GWÖ massiv die Mitbestimmung der Lohnabhängigen: In Betrieben ab 250 Beschäftigten müssen sie 25 % der Stimmrechte bekommen, ab 500 Beschäftigte fünfzig Prozent, und "ab 5000 Beschäftigten gehen Unternehmen zur Gänze in das Eigentum der Beschäftigten und der Allgemeinheit über." (Felber S. 66) Aber auch in kleineren und Kleinstbetrieben wird jede Form von demokratischer Mitbestimmung durch Gemeinwohlpunkte gefördert. Was Exner hier aufgeschnappt und nicht verstanden hat ist die Regelung, wonach in Familienbetrieben (und nur dort) beim Tod des Besitzers nur Firmenanteile im Wert von höchstens 10 Millionen Euro an Familienmitglieder vererbt werden können. Die Übertragung der anderen Anteile an die Beschäftigen soll nicht durch Zwang erfolgen, wird aber gefördert (s. Felber S. 70ff.).

Ein zentraler Kritikpunkt bei Exner wie auch bei Kratzwald richtet sich gegen den Kern der GWÖ, die Werteorientierung. Exner bestreitet Felbers Aussage, dass Werte das Fundament des Zusammenlebens seien, und meint stattdessen, "dass so genannte ethische Werte keinen Vorrang gegenüber den Lebensumständen, den menschlichen Beziehungen haben. Sie sind Ausdruck dieser Beziehungen, nicht ihr Fundament." (NWiS 10%).
Dies ist falsch, weil es das wesentliche Merkmal der Werte unterschlägt - ihren normativen Charakter. Eine Lüge ist gewissermaßen Ausdruck einer menschlichen Beziehung, eine wahre Aussage auch. Für Exner sind beide anscheinend austauschbar. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass Wahrheitsliebe in menschlichen Beziehungen erwünscht ist, Lügen dagegen unerwünscht. Aus diesem Grund bemühen sich Eltern, ihre Kinder zur Wahrheitsliebe zu erziehen, weil sie wissen, dass menschliche Beziehungen nicht lange halten, wenn sie auf Lügen aufgebaut sind. Und deshalb kann Felber zu Recht schreiben, dass Werte (wie z.B. Wahrheitsliebe) das Fundament des Zusammenlebens sind.

Bei Diskussionen über die GWÖ kommt an dieser Stelle häufig der Verweis auf Karl Marx (wie auch bei Exner: "Würde Felber tatsächlich wissen, was Marx wusste ..."), in dem Sinne: "Ihr VerfechterInnen der GWÖ müsst erst mal gründlich Marx lesen, und dann werdet ihr schon sehen ..." Als ob der Hinweis auf Marx allein schon ein Argument wäre! Ich habe Marx gelesen, und mir ist natürlich seine Ablehnung von Werten, Ethik und Moral bekannt. So z.B. in der "Deutschen Ideologie", wo Marx und Engels schreiben, dass "die Kommunisten  weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend machen und theoretisch diesen Gegensatz weder in jener gemütlichen noch in jener überschwänglichen ideologischen Form fassen, vielmehr seine materielle Geburtsstätte nachweisen, mit welcher er von selber verschwindet."
Weiter heißt es: "Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral (...) Sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten pp.; sie wissen im Gegenteil sehr gut, dass der Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige Form der Durchsetzung der Individuen ist. Die Kommunisten wollen also keineswegs (...) den "Privatmenschen" dem "allgemeinen", dem aufopfernden Menschen zuliebe aufheben ..." (MEW 3, S. 229)
Marx und Engels glaubten, dass es vollkommen genügt, wenn die Arbeiter (ganz ohne Bezug auf "Werte") ihre materiellen, egoistischen Interessen vertreten. Dann werde die Überwindung des Kapitalismus aufgrund historischer Gesetzmäßigkeiten zwangsläufig erfolgen. Wir wissen heute, dass diese Erwartung leider falsch war. Und mehr noch: Mit ihrer Ablehnung der Ethik lügen Marx und Engels sich selbst was in die Tasche! Argumentieren sie denn vollkommen wertfrei? Da sie keine Arbeiter waren, können ihre persönlichen Interessen nicht mit den Interessen der Arbeiter identisch gewesen sein. Von einem streng materialistischen Standpunkt aus betrachtet müssten sie also eigentlich einen völlig neutralen Blick auf den Interessenkonflikt zwischen Kapitalisten und Arbeitern haben. Setzen die Arbeiter sich durch? Gut. Setzen die Kapitalisten sich durch? Auch gut ... Aber so war es ja nicht. Aus jedem Buch, fast aus jedem einzelnen Satz von Marx und Engels spricht klar die ablehnende Haltung gegen den Kapitalismus. Aus rein materialistischer Perspektive kann man eigentlich nur konstatieren, dass der Kapitalismus existiert. Wer darüber hinausgehend meint, dass der Kapitalismus aber nicht existieren sollte, der argumentiert normativ, d.h. er geht aus von einer Wertvorstellung (z.B. vom Wert der sozialen Gerechtigkeit).

Bei aller Hochachtung vor Karl Marx stelle ich deshalb fest: Seine Ablehnung der Ethik war ein Irrweg. Dies haben Denker wie Paul Natorp, Hermann Cohen oder Karl Vorländer schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannt ("Der Sozialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus der Ethik gegründet ist.", Hermann Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur 'Geschichte des Materialismus' von F.A. Lange, Neuausgabe Zürich 1984, S. 112). Hieran gilt es nun anzuknüpfen.

Brigitte Kratzwald wiederum bezweifelt in ihrer Kritik generell, dass es so etwas wie Gemeinwohl überhaupt gibt:
"Das Problem fängt eigentlich schon beim Namen an. Die Entwicklung und Förderung einer solchen Ökonomie setzt voraus, dass es so etwas gibt - Gemeinwohl - und dass es genau definierbar und für alle das Gleiche ist und - so wird es suggeriert - auch messbar ist und Grundlage für politische Steuerung sein kann." (Kratzwald 30 %)
Nun gibt es z.B. Gesetze für die Deutsche Bahn, in denen es explizit heißt, dass die Entwicklung des Streckennetzes so angelegt sein müsse, dass sie "überregional dem Gemeinwohl dient".
Unter der Annahme, dass es so etwas wie Gemeinwohl gar nicht gibt, könnte man diese Gesetze ersatzlos streichen. In der Folge würden dann Bahnstrecken nur noch dorthin verlegt, wo z.B. Firmen dafür zahlen, oder wo Lokalpolitiker der Bahn gute Angebote machen können ... Vermutlich würde auch Brigitte Kratzwald eine solche Entwicklung nicht wollen.

Ein anderes Zitat macht deutlich, worin ihre Verständnisprobleme begründet sind:
"Die Idee der Gemeinwohlökonomie basiert hauptsächlich auf abstrakten Werten, die normativ angewendet und zu allererst über einen moralischen Appell eingeführt werden. Dadurch bleibt das Ganze immer auf einer Metaebene." (Kratzwald a.a.O.)
So ist es: Von der Ebene des einzelnen Ego aus gesehen ist die soziale Gemeinschaft eine Metaebene. Kratzwald scheint nun aber vorauszusetzen, dass eine Metaebene notwendigerweise "abstrakt" und irgendwie nicht so ganz real sei. Dies ist jedoch falsch. Die soziale Gemeinschaft ist genauso real wie das Ego, und sie ist auch keineswegs einfach nur die Summe aller einzelnen Egos (oder wenn man dies glaubt, sollte man sich auch klar sein, in welchem Dunstkreis man sich dann bewegt: Der Satz "Ich kenne keine Gesellschaft, nur Individuen." stammt von Margret Thatcher).
Bei der Betrachtung sozialer Gemeinschaften sind andere Maßstäbe anzulegen als bei der Betrachtung von Einzel-Egos. Dies wusste schon Friedrich Engels:
"Wenn es also darauf ankommt, die treibenden Mächte zu erforschen, die (...) hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehen und die eigentlichen letzten Triebkräfte der Geschichte ausmachen, so kann es sich nicht so sehr um die Beweggründe bei einzelnen (...) Menschen handeln, als um diejenigen, welche große Massen, ganze Völker und in jedem Volk wieder ganze Volksklassen in Bewegung setzen; (...) zu dauernder, in einer großen geschichtlichen Veränderung auslaufender Aktion." (F. Engels, Ludwig Feuerbach, MEW 21, S. 298.)

Ein solcher Beweggrund großer Massen ist das gemeinsame Wohl, das über den Einzelinteressen steht - das Gemeinwohl. Dabei ist keineswegs erforderlich, dass das Gemeinwohl ein gleiches Wohl für jeden Einzelnen sein müsse: Natürlich kann jemand sagen, dass eine Bahnanbindung ihm persönlich egal ist, weil er nur mit dem Auto fährt - aber das ändert nichts daran, dass flächendeckend gute Bahnverbindungen im Interesse des Gemeinwohls sind.

"Die Motivation zur Einhaltung dieser Werte soll durch ein Belohnungs-Bestrafungssystem verstärkt werden" (Kratzwald a.a.O.). Auch dies ist nicht ganz richtig: Nicht die "Werte" sollen eingehalten werden, sondern die Gesetze, die auf dem Hintergrund dieser Werte formuliert werden. Und dass dies über ein "Belohnungs-Bestrafungssystem" erfolgt, ist nun kein Markenzeichen der GWÖ, sondern aller Gesellschaften: Wer gegen Gesetze verstößt, wird bestraft, wer hingegen ein erwünschtes Verhalten zeigt, wird (z.B. durch Steuervergünstigungen) belohnt. Ein besseres System ist den Menschen leider noch nicht eingefallen. Wenn Brigitte Kratzwald dies kritisiert, ist ihr offenbar entgangen, dass gerade Christian Felber hier auf eine bessere Zukunft hofft: "In der Gemeinwohl-Ökonomie wäre das so lange nicht anders, bis alle Menschen und Unternehmen freiwillig das Wohl aller als oberstes Ziel verfolgen und von solchen Straftaten Abstand nehmen. So weit sind wir allerdings noch nicht." (Felber S. 141) Gerade an diesem Punkt kann ich Felber jedoch nicht folgen, denn die utopische Hoffnung, dass alle Menschen freiwillig den moralischen Werten gemäß handeln, hat sich in der Menschheitsgeschichte noch nie erfüllt. Ich erwarte von der GWÖ nur, eine ganz normale Gesellschaft mit ganz normalen Gesetzen zu sein, deren Verletzung mit ganz normalen Strafen sanktioniert wird.

Gar nicht schön finde ich es, wenn auch Brigitte Kratzwald ähnlich wie Andreas Exner den Gemeinwohlökonomen Aussagen unterstellt, die in Wirklichkeit so nie gemacht wurden: "Menschen sollen "umgepolt" werden, als wären wir alle Pawlowsche Hunde. Die Überzeugung, dass das Gemeinwohl für mich das gleiche ist, wie für andere soll also durch Umerziehung hergestellt werden." (Kratzwald 50 %)
In Wirklichkeit heißt es bei Felber: "Der Anreizrahmen für die individuellen Wirtschaftsakteure muss umgepolt werden von Gewinnstreben und Konkurrenz auf Gemeinwohlstreben und Kooperation." (Felber S. 24). Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Menschen umgepolt werden (durch Gehirnwäsche und Umerziehung) oder ökonomische Rahmenbedingungen (durch Gesetze und finanzielle Anreize). In der GWÖ ist nur von letzterem die Rede.

Zur Kritik am Wertansatz habe ich oben schon das wesentliche geschrieben. Ich möchte hier nur hinzufügen, dass Brigitte Kratzwald wiederum mit falschen Karten spielt, wenn sie schreibt: "Was in der Gemeinwohlökonomie als Werte definiert ist, nämlich Vertrauensbildung, Kooperation, Wertschätzung, Demokratie, Solidarität, sind meines Erachtens nach keine Werte, sondern soziale Praktiken, die in verschiedenen Gesellschaften verschiedene Formen annehmen können." (Kratzwald a.a.O.) Der Satz ist an sich mehr oder weniger richtig, denn in der Tat ist z.B. Demokratie kein Wert, sondern eine Regierungsform. Man kann zu Recht kritisieren, dass Felber gelegentlich solche Ungenauigkeiten unterlaufen, wenn von Werten die Rede ist (er meint eigentlich die Werte, die hinter der Demokratie stehen, wie die Gleichberechtigung der Bürger). Aber gleichzeitig suggeriert der Satz, dass die GWÖ genau fünf Werte definieren würde: Vertrauensbildung, Kooperation, Wertschätzung, Demokratie und Solidarität. Dies ist natürlich falsch, denn es wird in der GWÖ kein Wertekanon aufgestellt, und als Beispiele nennt Felber auch viele andere Werte, z.B. ganz am Anfang des Buches "Vertrauensbildung, Ehrlichkeit, Zuhören, Empathie, Wertschätzung, Kooperation, gegenseitige Hilfe und Teilen" (Felber S. 10). Auch hier kann man monieren, dass Zuhören und Teilen keine Werte seien, sondern Tätigkeiten. Aber jeder versteht auch, welche Werte damit eigentlich gemeint sind.

Was Felbers seltsame neue Schulfächer betrifft (Gefühlskunde, Wildniskunde ...), so teile ich die Kritik daran voll und ganz. Andererseits brauchen wir dringend eine andere Schulerziehung, die mehr sein will als eine Dressur der Schüler und Schülerinnen für die kapitalistische Arbeitswelt. Aber Felbers neue Fächer sind bestimmt auch nicht der richtige Weg.

"Ein wesentliches Merkmal einer Gesellschaftsordnung sollte für mich sein, dass sie gerade Menschen, die die Werte der Mehrheit nicht teilen, nicht von der Nutzung lebenswichtiger Güter ausschließt - sie muss sich an den Bedürfnissen orientieren nicht an Werten.", schreibt Brigitte Kratzwald (a.a.O. 75 %). Auch wenn man es vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennt, ist dieser Satz genauso paradox wie "ein Kreter sagt, alle Kreter sind Lügner". Denn es handelt sich hier um einen normativen Satz, einen Satz, der sich an einer Wertvorstellung orientiert (der Wert ist in diesem Fall Bedürfnisorientierung), während er sich gleichzeitig gegen Werte ausspricht, also sich selbst die Existenzberechtigung abspricht ...
Ganz ähnlich liegt der Fall bei der Forderung "Brot, Schoki und Freiheit für alle" (nach Friederike Habermann) als Orientierungspunkt der Gesellschaft anstelle von Werten (Kratzwald a.a.O. 50 %): Solange ich meine persönlichen Bedürfnisse nach Brot, Schoki und Freiheit zu befriedigen versuche, können Werte aus dem Spiel bleiben. Aber sobald jemand über die persönlichen Bedürfnisse hinausgeht und sagt, diese Forderung müsse "für alle" gelten, steht schon wieder ein Wert (Gerechtigkeit) im Hintergrund. Das reine natürliche Bedürfnis sagt nur "Brot für mich", und zwar nur für mich. Die Forderung "Brot für alle" steht auf einer ganz anderen Ebene. Anstatt Werte durch Bedürfnisse zu ersetzen, ersetzt Brigitte Kratzwald nur Werte durch - Werte ...

Wenn Brigitte Kratzwald vor einem "Tugendterror" warnt, sollte die GWÖ eine solche Gefahr durchaus ernst nehmen. Die Betonung der Werte darf natürlich nicht dazu führen, dass Menschen stigmatisiert werden, die solche Werte nicht teilen. Die GWÖ muss z.B. berücksichtigen, dass pubertierende Jugendliche die Werte der Erwachsenenwelt quasi aus Prinzip ablehnen. Andererseits halte ich diese Gefahren für überschaubar, da die Orientierung an Wertvorstellungen sich ja vor allem auf die Wirtschaft bezieht, und nur in der wirtschaftlichen Welt gibt es die besagten Anreize und Sanktionen. Aber wenn nun z.B. ein GWÖ-Taxifahrer Vertrauensbildung doof findet, sehe ich nicht, dass ihm daraus irgendwelche Nachteile erwachsen würden ...

Ähnlich wie Exner setzt auch Kratzwald eher auf die Projekte der Solidarischen Ökonomie und wirft der GWÖ vor, sie habe "wenig Vertrauen in die Selbstorganisationfähigkeit von Menschen und sie haben auch Angst davor, sich auf Entwicklungsprozesse einzulassen, irgendwie haben sie einen Kontrollzwang." (Kratzwald 80%) Und am Ende heißt es: "Diese Gegengeschichten können wir nur gemeinsam schreiben, wir müssen sie selber schreiben und ich bin sicher, sie entstehen nicht vom Schreibtisch aus." (Kratzwald 95 %) - Ich denke, die GWÖ ist eine notwendige Ergänzung zur Solidarischen Ökonomie, wenn diese wirklich ihre Nischen verlassen und die ganze Gesellschaft umgestalten will. Man kann auch von den Menschen, die in der Solidarischen Ökonomie arbeiten und dort genug zu tun haben, nicht auch noch erwarten, ein gesellschaftliches Gesamtkonzept auszuarbeiten und entsprechende Netzwerke zu organisieren. Dies ist die Aufgabe von Philosophen und Sozialwissenschaftlern, die so etwas "vom Schreibtisch aus" machen. Mit der GWÖ verbinde ich die Hoffnung, dass sich in ihrem Namen eine echte antikapitalistische Gegen-Wirtschaft entwickeln kann, indem einerseits Produzenten (aus dem Spektrum der Solidarischen Ökonomie und andere) sich hier zu einem effektiven Netzwerk zusammenschließen, und andererseits auch Konsumenten, die ihre vereinigte Macht nutzen, um gezielt die Produkte der GWÖ-Produzenten zu kaufen und möglichst wenig andere.

Dabei sehe ich die GWÖ als ein offenes Projekt, dass sich in der Entwicklung befindet, und dass gewiss in vielen Punkten noch konstruktive Kritik nötig hat. So finde ich es in der Tat bedenkenswert, wenn Andreas Exner schreibt: "Die Felbersche Konzeption der Betriebe, die aus nicht ersichtlichen Gründen Gemeinwohlpunkte über jenes Maß hinaus sammeln, das ihnen den Genuss von staatlichen Förderungen bei möglichst geringem sonstigen Aufwand bringt, hat denselben Fehler wie die sowjetische "Tonnenplanung". (...) Da die sowjetische Ökonomie nicht auf konkrete Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet und von den Menschen direkt geplant wurde, sondern eine Marktwirtschaft (unter starkem staatlichem Kommando) darstellte, machten die sowjetischen Betriebe das, was in einer Marktwirtschaft tendenziell alle tun: sie versuchten die Planvorgaben zu umgehen bzw. mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel herauszuholen." (NWiS 75 %). So laufe auch die GWÖ Gefahr, ein bürokratisches Ungetüm zu werden. Deshalb sollten wir überlegen, ob wirklich diese Vielzahl unterschiedlicher Gemeinwohlpunkte notwendig ist. Vielleicht wäre weniger mehr? Vielleicht hätte auch allein die Einführung der Demokratischen Bank (verbunden mit der Abschaffung aller Finanzspekulationen) und die Regel, dass Unternehmensanteile nur noch im Besitz von Menschen sein dürfen, die selbst in dem Unternehmen arbeiten, einen ausreichenden Gemeinwohl-Effekt auf die Wirtschaft? Darüber sollte nachgedacht und diskutiert werden.


Quellen:

Andreas Exner, Neue Werte im Sonderangebot http://www.streifzuege.org/2011/neue-werte-im-sonderangebot-die-gemeinwohlokonomie-christian-felbers (= NWiS)

Andreas Exner, Solidarische Ökonomien statt 'Gemeinwohl-Ökonomie' http://www.streifzuege.org/2011/solidarische-oekonomie-statt-gemeinwohl-oekonomie (= SÖsGÖ)

Christian Felber, Gemeinwohl-Ökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Wien 2010 (= Felber)

Brigitte Katzwald, Die Gemeinwohlökonomie und attac
http://kratzwald.wordpress.com/2011/06/06/die-gemeinwohlokonomie-und-attac/  (= Kratzwald)