Zur Verteidigung der Gemeinwohl-Ökonomie gegen einige ihrer Kritiker
von Kolja Mendler
Die Idee einer Gemeinwohlökonomie als Alternative zum Kapitalismus
entwickelt sich gerade zu einer Erfolgsgeschichte, die immer mehr
Anhänger gewinnt. Aber es melden sich auch Kritiker zu Wort -
erstaunlicherweise nicht aus den Reihen der neoliberalen Ökonomen oder
der Finanzmärkte, die als die natürlichen Gegner der GWÖ anzusehen
sind, sondern aus den eigenen Reihen der Kapitalismuskritiker.
Da ist vor allem Andreas Exner, der die GWÖ und ihren "Vordenker"
Christian Felber in mehreren Online-Artikeln kritisiert hat. Die
Heftigkeit seiner Angriffe (u.a. deutet er Parallelen zwischen
Christian Felber und Hitler an) ist nur durch persönliche Motive zu
erklären, über die ich hier nicht weiter spekulieren will.
Aber
neben jener aggressiven Polemik sind einige von Exners
Kritikpunkten durchaus ernstzunehmen. Nur bedingt gilt dies allerdings
für seinen Versuch, einen künstlichen Antagonismus zwischen der
Gemeinwohlökonomie und der sogenannten "Solidarischen Ökonomie"
aufzubauen. Interessanterweise sind die Beispiele, die Exner für die
Solidarische Ökonomie anführt (z.B. die baskische Genossenschaft
Mondragon), teilweise genau dieselben, die Felber als bereits
existierende Beispiele für Gemeinwohlökonomie nennt. Exner führt dies
darauf zurück, dass Felber versuche, die Solidarische Ökonomie zu
"vereinahmen". Aber wenn dies so wäre, wenn Felber also nur das Etikett
"Gemeinwohlökonomie" auf die Solidarische Ökonomie klebt - wie könnte
dann gleichzeitig zwischen ihnen ein Gegensatz bestehen, wie könnte die
Gemeinwohlökonomie eine reine Utopie sein, die Solidarische Ökonomie
hingegen den Kapitalismus im Hier-und-Jetzt überwinden (wie Exner
schreibt, SÖsGÖ 10 %)? Entweder Vereinnahmung oder Gegensatz: Beides
gleichzeitig geht nicht.
Der Vorwurf der Vereinnahmung findet sich auch in der Kritik von
Brigitte Kratzwald: "Manche der VertreterInnen der GWÖ (nicht alle!)
tendieren dazu, zu behaupten, sie hätten schon alle anderen
Alternativen integriert. So nach dem Motto "wir haben den richtigen Weg
gefunden, ihr braucht uns nur noch zu folgen"." (Kratzwald 40 %) Dies
wäre in der Tat so nicht akzeptabel. Aber ich glaube, dieser Eindruck
wird vor allem von dem vielleicht etwas unglücklich gewählten
Untertitel von Christian Felbers Buch "Gemeinwohlökonomie - Das
Wirtschaftsmodell der Zukunft" erzeugt. Schon auf der Buch-Rückseite
heißt es viel weniger ausschließlich, die GWÖ sei "ein
Wirtschaftsmodell mit Zukunft". Aber wie dem auch sei, man sollte diese
Formulierungen nicht überbewerten, die vermutlich gar nicht von
Christian Felber stammen, sondern von irgendeinem Verlags-Werbetexter.
Ebenfalls unglücklich ist eine sprachliche Ungenauigkeit, die Felber in
seinem Buch unterlaufen ist, wenn er einerseits jede Wirtschaftsweise,
die nicht profitorientiert ist (wie eben die Mondragon-Genossenschaft),
als Gemeinwohlökonomie bezeichnet, andererseits aber mit diesem Begriff
jenes spezifische, von ihm entworfene Wirtschaftsmodell meint. Zu
berücksichtigen bleibt hier aber immer: "Die Gemeinwohl-Ökonomie ist
kein vollendetes Modell, vielmehr sollen die Details erst in
demokratischen Prozessen festgelegt werden" (Felber S.9). Ich denke,
dies ist ein sehr wichtiger Punkt, und wenn jemand im Ernst glaubt, die
GWÖ sei der einzige "richtige Weg", dann hätte er etwas ganz
Entscheidendes nicht verstanden: In dem Buch von Christian Felber steht
nicht das endgültige Konzept der Gemeinwohlökonomie, sondern es enthält
nur Vorschläge dazu. Was die Gemeinwohlökonomie sein wird, soll in
einem umfassenden demokratischen Prozess diskutiert und beschlossen
werden; da können dann also nicht nur Christian Felber und die
eingeschworenen GWÖ-Fans ihre Ideen einbringen, sondern du, ich, wir
alle! Es gehört zum Wesen der GWÖ, dass sie am Ende vielleicht dem
Konzept von Christian Felber ähneln, vielleicht aber auch etwas ganz
anderes sein wird.
Ein wichtiger Unterschied zwischen den verschiedenen Projekten der
Solidarischen Ökonomie und der GWÖ ist deren gesamtgesellschaftliche
Ausrichtung. Die Bewegung der Solidarischen Ökonomie ist ein Netzwerk
verschiedenartiger Projekte, die meistens den Schwerpunkt auf ihre ganz
konkrete, lokale Arbeit legen. Auch wenn die einzelnen Mitglieder
durchaus den Wunsch nach einer grundlegenden Reform der gesamten
Gesellschaft haben mögen, gibt es dafür kein eigentliches Konzept,
diese Frage bleibt im Hintergrund. Hierin liegt die Gefahr, dass die
Solidarischen Ökonomen sich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft
Nischen schaffen, in denen sie ungestört vor sich hin werkeln können,
und in denen sie vom Kapitalismus kaltlächelnd geduldet werden, weil
sie für ihn keine ernstzunehmende Bedrohung darstellen. Es klingt
deshalb ausgesprochen seltsam, wenn Andreas Exner schreibt: "Sie (= die
Solidarische Ökonomie) ist im Unterschied zur "Gemeinwohl-Ökonomie"
keine Utopie, sondern eine Realität im Hier-und-Jetzt." SÖsGÖ 10 %)
Soll das bedeuten, dass Exner mit der herrschenden Realität
(Kapitalismus mit einigen solidarischen Nischen) zufrieden ist?
Natürlich sind die Projekte der Solidarischen Ökonomie Realität - aber
eben eine Realität, die keine Tendenzen aufweist, die kapitalistische
Gesellschaft als ganzes umgestalten zu können. Dies wäre Utopie, ja -
aber die Gemeinwohlökonomie zeigt Wege, um diese Utopie zu
verwirklichen.
Wenn
Exner ferner meint, der GWÖ vorwerfen zu müssen, sie würde mit
"Marketing"-Methoden immer neue Scharen von Fans anlocken, dann ist
dies eigentlich kein Vorwurf gegen die GWÖ sondern gegen die
Solidarische Ökonomie, die ja viel älter als die GWÖ ist: Warum hat sie
denn in all den Jahren ihrer Aktivität es nicht geschafft, die
Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken? Warum ist sie nach wie
vor der breiten Öffentlichkeit komplett unbekannt? Die Solidarische
Ökonomie hat als Konkurrenz-Projekt zur kapitalistischen Wirtschaft
einen äußerst schweren Stand. Die bürgerlichen Medien ignorieren sie,
Informationen über sie findet nur, wer ganz gezielt danach sucht (also
schon Vorkenntnisse besitzt). In dieser Situation sollte man die (immer
noch sehr begrenzte) neue Beliebtheit der GWÖ geradezu als Geschenk des
Himmels betrachten, denn dieses "Marketing-Moment" ist genau das, was
der Solidarischen Ökonomie fehlt, um tatsächlich eine ernste Bedrohung
für den Kapitalismus zu werden. - Oder will Andreas Exner
vielleicht gar nicht die breite Öffentlichkeit erreichen? Genießt er es
vielleicht eher, einer kleinen
Elite anzugehören? Über seine weiteren polemischen Attacken zu diesem
Thema (GWÖ-Fans = doof, Solidarische-Ökonomie-Anhänger = prima) will
ich hier den gnädigen Mantel des Schweigens breiten.
An anderer Stelle stiftet Exner mit seiner Kritik bewusst Verwirrung,
um z.B. Christian Felber Aussagen zu unterstellen, die tatsächlich bei
ihm nicht zu finden sind. So vertauscht er wie ein geschickter
Hütchenspieler Sätze zu Marktwirtschaft und Kapitalismus (NWiS 50 %):
Da soll zuerst die GWÖ nicht mehr gewinnorientiert sein, dann irgendwie
doch, dann "ist sich unser Autor jedoch nicht sicher, ob die
Gemeinwohlökonomie nun eine nicht-kapitalistische oder eine
kapitalistische ist" (wieso das?!), dann sollen Gewinne auf bestimmte
Verwendungen begrenzt werden, um ein "Überschießen in den Kapitalismus"
in eine sinnvollere Richtung umzulenken - um schließlich zu dem Resumée
zu kommen: "Die Gemeinwohlökonomie ist also nach Aussage des Autors
nicht nur eine Marktwirtschaft, sondern auch Kapitalismus." Wo er beim
"Autor" allerdings diese "Aussage" findet, bleibt sein Geheimnis.
Wer dagegen die entsprechenden Passagen bei Christian Felber (S. 35)
nachliest, wird entdecken, dass dort von der angeblichen Verwirrung
keine Spur zu finden ist: Der Text geht davon aus, dass sich
Unternehmen in der GWÖ in erster Linie auf das Gemeinwohl und nicht
mehr auf den Gewinn orientieren sollen - also "gemeinwohlorientiert"
und nicht mehr "gewinnorientiert". Der Gewinn ist demnach nicht mehr
das vorrangige Ziel, aber nirgendwo ist davon die Rede, dass jetzt überhaupt keine Gewinne mehr gemacht würden. Da Gewinne sowohl
nützliche wie schädliche Auswirkungen auf das Gemeinwohl haben können,
sollen sie in der GWÖ allein auf die nützlichen Verwendungen begrenzt
werden. Dies ist alles vollkommen klar, wo soll hier die Verwirrung
sein? Und vor allem: Wo wird hier behauptet, die GWÖ sei Kapitalismus?
Ähnlich geht Exner vor, wenn er Felbers These kritisiert, wonach es in
der kapitalistischen Wirtschaft Wachstumsdruck durch Zinsen gebe (NWiS
60 %). Dies ist ja auch völlig logisch und kaum zu leugnen: Ein
Unternehmen nimmt als Startkapital einen Kredit auf, muss dafür Zinsen
bezahlen und muss demzufolge zwangsläufig wachsen - ein Gleichgewicht
zwischen Einnahmen und Ausgaben würde auch den Konkurs bedeuten, weil
dann die Zinsen nicht gezahlt werden könnten. Exner schiebt Felber an
dieser Stelle die These unter, dass jegliches Wachstum des Kapitals im
wesentlichen auf den Zins zurückzuführen sei, und daran arbeitet er
sich dann argumentativ ab. Auch hier "widerlegt" Exner also eine These,
die Christian Felber nie aufgestellt hat. Und dies, obwohl er ein paar
Sätze weiter unten selbst schreibt: "Andererseits nennt er als Ursachen
des Wachstums die Erhöhung von Gewinnen, die Bedienung von Aktionären,
die Behauptung in der Konkurrenz und der Schutz vor feindlichen Übernahmen (S.44)."
Es gibt noch andere Beispiele, bei denen Exners Kritik keinerlei
Grundlage hat, z.B. wenn er schreibt: "Ein weiteres strukturelles
Problem seiner Konzeption besteht darin, dass Gewinne und Einkommen
begrenzt sind - würden dennoch Gewinne erwirtschaftet, die das erlaubte
Maß überschreiten, müssten sie vernichtet werden. Eine
Gewinnvernichtung würde wie eine Kapitalsteuer wirken, nur dass sie, im
Unterschied zu dieser, auch dem Staat nicht zugute käme." (NWiS 75 %)
Wie kommt er darauf? Wir erfahren es nicht, weil hier kein Quellenbeleg
angegeben ist. Tatsächlich ist diese angebliche Gewinnvernichtung
einfach Unsinn (wie sollte man sich die überhaupt vorstellen? Würde das
Geld verbrannt?) - Christian Felber schreibt an mehreren Stellen, dass
die über das erlaubte Maß erzielten Gewinne "weggesteuert" werden (z.B.
S. 34: "sonst würden sie [die Gewinne] weggesteuert"), also sehr wohl
dem Staat zugute kommen.
Noch ein Beispiel: "Die "Gemeinwohl-Ökonomie" sieht die Aufhebung der
Trennung zwischen Management und Lohnabhängigen nur für den Fall des
Todes der Unternehmerin oder des Unternehmers vor - sofern diese das
auch wünschen. Die Belegschaft hat darin keine Stimme, gegen die
Unternehmerschaft soll sie sich nicht durchsetzen können. Während die
Vorteile einer solchen (erst Jahre oder Jahrzehnte später zu
vollziehenden) "Umwandlung" eines "Gemeinwohl-Betriebs" in eine
Genossenschaft schon zu Lebzeiten für die Unternehmer*innen
geschäftlich fühlbar werden, müssen die Lohnabhängigen bis zum Tod des
Eigentümers warten." (SÖsGÖ 60 %)
Dieser Abschnitt enthält buchstäblich nicht einen einzigen wahren Satz
und verkehrt das erklärte Ziel der GWÖ, "dass Unternehmen von möglichst
vielen, wenn nicht allen Personen besessen werden" (Felber S. 70),
willkürlich in dessen Gegenteil. Tatsächlich fördert die GWÖ massiv die
Mitbestimmung der Lohnabhängigen: In Betrieben ab 250 Beschäftigten
müssen sie 25 % der Stimmrechte bekommen, ab 500 Beschäftigte fünfzig
Prozent, und "ab 5000 Beschäftigten gehen Unternehmen zur Gänze in das
Eigentum der Beschäftigten und der Allgemeinheit über." (Felber S. 66)
Aber auch in kleineren und Kleinstbetrieben wird jede Form von
demokratischer Mitbestimmung durch Gemeinwohlpunkte gefördert. Was
Exner hier aufgeschnappt und nicht verstanden hat ist die Regelung,
wonach in Familienbetrieben (und nur dort) beim Tod des Besitzers nur
Firmenanteile im Wert von höchstens 10 Millionen Euro an
Familienmitglieder vererbt werden können. Die Übertragung der anderen
Anteile an die Beschäftigen soll nicht durch Zwang erfolgen, wird aber
gefördert (s. Felber S. 70ff.).
Ein zentraler Kritikpunkt bei Exner wie auch bei Kratzwald richtet sich
gegen den Kern der GWÖ, die Werteorientierung. Exner bestreitet Felbers
Aussage, dass Werte das Fundament des Zusammenlebens seien, und meint
stattdessen, "dass so genannte ethische Werte keinen Vorrang gegenüber
den Lebensumständen, den menschlichen Beziehungen haben. Sie sind
Ausdruck dieser Beziehungen, nicht ihr Fundament." (NWiS 10%).
Dies ist falsch, weil es das wesentliche Merkmal der Werte unterschlägt
- ihren normativen Charakter. Eine Lüge ist gewissermaßen Ausdruck
einer menschlichen Beziehung, eine wahre Aussage auch. Für Exner sind
beide anscheinend austauschbar. Der entscheidende Unterschied besteht
aber darin, dass Wahrheitsliebe in menschlichen Beziehungen erwünscht
ist, Lügen dagegen unerwünscht. Aus diesem Grund bemühen sich Eltern,
ihre Kinder zur Wahrheitsliebe zu erziehen, weil sie wissen, dass
menschliche Beziehungen nicht lange halten, wenn sie auf Lügen
aufgebaut sind. Und deshalb kann Felber zu Recht schreiben, dass Werte
(wie z.B. Wahrheitsliebe) das Fundament des Zusammenlebens sind.
Bei
Diskussionen über die GWÖ kommt an dieser Stelle häufig der Verweis
auf Karl Marx (wie auch bei Exner: "Würde Felber tatsächlich wissen,
was Marx wusste ..."), in dem Sinne: "Ihr VerfechterInnen der GWÖ müsst
erst mal gründlich Marx lesen, und dann werdet ihr schon sehen ..." Als
ob der Hinweis auf Marx allein schon ein Argument wäre! Ich habe Marx
gelesen, und mir ist natürlich seine Ablehnung von Werten, Ethik und
Moral bekannt. So z.B. in der "Deutschen Ideologie", wo Marx und Engels
schreiben, dass "die Kommunisten weder den Egoismus gegen die
Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend machen und
theoretisch diesen Gegensatz weder in jener gemütlichen noch in jener
überschwänglichen ideologischen Form fassen, vielmehr seine materielle
Geburtsstätte nachweisen, mit welcher er von selber verschwindet."
Weiter heißt es: "Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral
(...)
Sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch
untereinander, seid keine Egoisten pp.; sie wissen im Gegenteil sehr
gut, dass der Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten
Verhältnissen notwendige Form der Durchsetzung der Individuen ist. Die
Kommunisten wollen also keineswegs (...) den "Privatmenschen" dem
"allgemeinen", dem aufopfernden Menschen zuliebe aufheben ..." (MEW 3,
S.
229)
Marx und Engels glaubten, dass es vollkommen genügt, wenn die Arbeiter
(ganz ohne Bezug auf "Werte") ihre materiellen, egoistischen Interessen
vertreten. Dann werde die Überwindung des Kapitalismus aufgrund
historischer Gesetzmäßigkeiten zwangsläufig erfolgen. Wir wissen heute,
dass diese Erwartung leider falsch war. Und mehr noch: Mit ihrer
Ablehnung der Ethik lügen Marx und Engels sich selbst was in die
Tasche! Argumentieren sie denn vollkommen wertfrei? Da sie keine
Arbeiter waren, können ihre persönlichen Interessen nicht mit den
Interessen der Arbeiter identisch gewesen sein. Von einem streng
materialistischen Standpunkt aus betrachtet müssten sie also eigentlich
einen völlig neutralen Blick auf den Interessenkonflikt zwischen
Kapitalisten und Arbeitern haben. Setzen die Arbeiter sich durch? Gut.
Setzen die Kapitalisten sich durch? Auch gut ... Aber so war es ja nicht.
Aus jedem Buch, fast aus jedem einzelnen Satz von Marx und Engels
spricht klar die ablehnende Haltung gegen den Kapitalismus. Aus rein
materialistischer Perspektive kann man eigentlich nur konstatieren,
dass der Kapitalismus existiert. Wer darüber hinausgehend meint, dass
der Kapitalismus aber nicht existieren sollte, der argumentiert
normativ, d.h. er geht aus von einer Wertvorstellung (z.B. vom Wert der
sozialen Gerechtigkeit).
Bei aller Hochachtung vor Karl Marx stelle ich deshalb fest: Seine
Ablehnung der Ethik war ein Irrweg. Dies haben Denker wie Paul Natorp,
Hermann Cohen oder Karl Vorländer schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts
erkannt ("Der Sozialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus der
Ethik gegründet ist.", Hermann Cohen, Einleitung mit kritischem
Nachtrag zur 'Geschichte des Materialismus' von F.A. Lange, Neuausgabe
Zürich 1984, S. 112). Hieran gilt es nun anzuknüpfen.
Brigitte Kratzwald wiederum bezweifelt in ihrer Kritik generell, dass es so etwas wie Gemeinwohl überhaupt gibt:
"Das Problem fängt eigentlich schon beim Namen an. Die Entwicklung und
Förderung einer solchen Ökonomie setzt voraus, dass es so etwas gibt -
Gemeinwohl - und dass es genau definierbar und für alle das Gleiche ist
und - so wird es suggeriert - auch messbar ist und Grundlage für
politische Steuerung sein kann." (Kratzwald 30 %)
Nun gibt es z.B. Gesetze für die Deutsche Bahn, in denen es explizit
heißt, dass die Entwicklung des Streckennetzes so angelegt sein müsse,
dass sie "überregional dem Gemeinwohl dient".
Unter der Annahme, dass es so etwas wie Gemeinwohl gar nicht gibt,
könnte man diese Gesetze ersatzlos streichen. In der Folge würden dann
Bahnstrecken nur noch dorthin verlegt, wo z.B. Firmen dafür zahlen,
oder wo Lokalpolitiker der Bahn gute Angebote machen können ...
Vermutlich würde auch Brigitte Kratzwald eine solche Entwicklung nicht
wollen.
Ein anderes Zitat macht deutlich, worin ihre Verständnisprobleme begründet sind:
"Die Idee der Gemeinwohlökonomie basiert hauptsächlich auf abstrakten
Werten, die normativ angewendet und zu allererst über einen moralischen
Appell eingeführt werden. Dadurch bleibt das Ganze immer auf einer
Metaebene." (Kratzwald a.a.O.)
So
ist es: Von der Ebene des einzelnen Ego aus gesehen ist die soziale
Gemeinschaft eine Metaebene. Kratzwald scheint nun aber vorauszusetzen,
dass eine Metaebene notwendigerweise "abstrakt" und irgendwie nicht so
ganz real sei. Dies ist jedoch falsch. Die soziale Gemeinschaft ist
genauso real wie das Ego, und sie ist auch keineswegs einfach nur die
Summe aller einzelnen Egos (oder wenn man dies glaubt, sollte man sich
auch klar sein, in welchem Dunstkreis man sich dann bewegt: Der Satz
"Ich kenne keine Gesellschaft, nur Individuen." stammt von Margret
Thatcher).
Bei der Betrachtung sozialer Gemeinschaften sind andere Maßstäbe
anzulegen als bei der Betrachtung von Einzel-Egos. Dies wusste schon
Friedrich Engels:
"Wenn es also darauf ankommt, die treibenden Mächte zu erforschen, die
(...) hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen
stehen und die eigentlichen letzten Triebkräfte der Geschichte
ausmachen, so kann es sich nicht so sehr um die Beweggründe bei
einzelnen (...) Menschen handeln, als um diejenigen, welche große
Massen, ganze Völker und in jedem Volk wieder ganze Volksklassen in
Bewegung setzen; (...) zu dauernder, in einer großen geschichtlichen
Veränderung auslaufender Aktion." (F. Engels, Ludwig Feuerbach, MEW 21,
S. 298.)
Ein solcher Beweggrund großer Massen ist das gemeinsame Wohl, das über
den Einzelinteressen steht - das Gemeinwohl. Dabei ist keineswegs
erforderlich, dass das Gemeinwohl ein gleiches Wohl für jeden Einzelnen
sein müsse: Natürlich kann jemand sagen, dass eine Bahnanbindung ihm
persönlich egal ist, weil er nur mit dem Auto fährt - aber das ändert
nichts daran, dass flächendeckend gute Bahnverbindungen im Interesse
des Gemeinwohls sind.
"Die Motivation zur Einhaltung dieser Werte soll durch ein
Belohnungs-Bestrafungssystem verstärkt werden" (Kratzwald a.a.O.). Auch
dies ist nicht ganz richtig: Nicht die "Werte" sollen eingehalten
werden, sondern die Gesetze, die auf dem Hintergrund dieser Werte
formuliert werden. Und dass dies über ein "Belohnungs-Bestrafungssystem" erfolgt, ist nun kein Markenzeichen der
GWÖ, sondern aller Gesellschaften: Wer gegen Gesetze verstößt, wird
bestraft, wer hingegen ein erwünschtes Verhalten zeigt, wird (z.B.
durch Steuervergünstigungen) belohnt. Ein besseres System ist den
Menschen leider noch nicht eingefallen. Wenn Brigitte Kratzwald dies
kritisiert, ist ihr offenbar entgangen, dass gerade Christian Felber
hier auf eine bessere Zukunft hofft: "In der Gemeinwohl-Ökonomie wäre
das so lange nicht anders, bis alle Menschen und Unternehmen freiwillig
das Wohl aller als oberstes Ziel verfolgen und von solchen Straftaten
Abstand nehmen. So weit sind wir allerdings noch nicht." (Felber S.
141) Gerade an diesem Punkt kann ich Felber jedoch nicht folgen, denn
die utopische Hoffnung, dass alle Menschen freiwillig den moralischen
Werten gemäß handeln, hat sich in der Menschheitsgeschichte noch nie
erfüllt. Ich erwarte von der GWÖ nur, eine ganz normale Gesellschaft
mit ganz normalen Gesetzen zu sein, deren Verletzung mit ganz normalen
Strafen sanktioniert wird.
Gar nicht schön finde ich es, wenn auch Brigitte Kratzwald ähnlich wie
Andreas Exner den Gemeinwohlökonomen Aussagen unterstellt, die in
Wirklichkeit so nie gemacht wurden: "Menschen sollen "umgepolt" werden,
als wären wir alle Pawlowsche Hunde. Die Überzeugung, dass das
Gemeinwohl für mich das gleiche ist, wie für andere soll also durch
Umerziehung hergestellt werden." (Kratzwald 50 %)
In Wirklichkeit heißt es bei Felber: "Der Anreizrahmen für die
individuellen Wirtschaftsakteure muss umgepolt werden von Gewinnstreben
und Konkurrenz auf Gemeinwohlstreben und Kooperation." (Felber S. 24).
Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Menschen umgepolt werden (durch
Gehirnwäsche und Umerziehung) oder ökonomische Rahmenbedingungen (durch
Gesetze und finanzielle Anreize). In der GWÖ ist nur von letzterem die
Rede.
Zur Kritik am Wertansatz habe ich oben schon das wesentliche
geschrieben. Ich möchte hier nur hinzufügen, dass Brigitte Kratzwald
wiederum mit falschen Karten spielt, wenn sie schreibt: "Was in der
Gemeinwohlökonomie als Werte definiert ist, nämlich Vertrauensbildung,
Kooperation, Wertschätzung, Demokratie, Solidarität, sind meines
Erachtens nach keine Werte, sondern soziale Praktiken, die in
verschiedenen Gesellschaften verschiedene Formen annehmen können."
(Kratzwald a.a.O.) Der Satz ist an sich mehr oder weniger richtig, denn
in der Tat ist z.B. Demokratie kein Wert, sondern eine Regierungsform.
Man kann zu Recht kritisieren, dass Felber gelegentlich solche
Ungenauigkeiten unterlaufen, wenn von Werten die Rede ist (er meint
eigentlich die Werte, die hinter der Demokratie stehen, wie die
Gleichberechtigung der Bürger). Aber gleichzeitig suggeriert der Satz,
dass die GWÖ genau fünf Werte definieren würde: Vertrauensbildung,
Kooperation, Wertschätzung, Demokratie und Solidarität. Dies ist
natürlich falsch, denn es wird in der GWÖ kein Wertekanon aufgestellt,
und als Beispiele nennt Felber auch viele andere Werte, z.B. ganz am
Anfang des Buches "Vertrauensbildung, Ehrlichkeit, Zuhören, Empathie,
Wertschätzung, Kooperation, gegenseitige Hilfe und Teilen" (Felber S.
10). Auch hier kann man monieren, dass Zuhören und Teilen keine Werte
seien, sondern Tätigkeiten. Aber jeder versteht auch, welche Werte
damit eigentlich gemeint sind.
Was Felbers seltsame neue Schulfächer betrifft (Gefühlskunde,
Wildniskunde ...), so teile ich die Kritik daran voll und ganz.
Andererseits brauchen wir dringend eine andere Schulerziehung, die mehr
sein will als eine Dressur der Schüler und Schülerinnen für die
kapitalistische Arbeitswelt. Aber Felbers neue Fächer sind bestimmt
auch nicht der richtige Weg.
"Ein wesentliches Merkmal einer Gesellschaftsordnung sollte für mich
sein, dass sie gerade Menschen, die die Werte der Mehrheit nicht
teilen, nicht von der Nutzung lebenswichtiger Güter ausschließt - sie
muss sich an den Bedürfnissen orientieren nicht an Werten.", schreibt
Brigitte Kratzwald (a.a.O. 75 %). Auch wenn man es vielleicht nicht auf
den ersten Blick erkennt, ist dieser Satz genauso paradox wie "ein
Kreter sagt, alle Kreter sind Lügner". Denn es handelt sich hier um
einen normativen Satz, einen Satz, der sich an einer Wertvorstellung
orientiert (der Wert ist in diesem Fall Bedürfnisorientierung), während
er sich gleichzeitig gegen Werte ausspricht, also sich selbst die Existenzberechtigung abspricht ...
Ganz ähnlich liegt der Fall bei der Forderung "Brot, Schoki und
Freiheit für alle" (nach Friederike Habermann) als Orientierungspunkt
der Gesellschaft anstelle von Werten (Kratzwald a.a.O. 50 %): Solange
ich meine persönlichen Bedürfnisse nach Brot, Schoki und Freiheit zu
befriedigen versuche, können Werte aus dem Spiel bleiben. Aber sobald
jemand über die persönlichen Bedürfnisse hinausgeht und sagt, diese
Forderung müsse "für alle" gelten, steht schon wieder ein Wert
(Gerechtigkeit) im Hintergrund. Das reine natürliche Bedürfnis sagt nur "Brot für mich", und zwar nur für mich. Die Forderung "Brot für alle"
steht auf einer ganz anderen Ebene. Anstatt Werte durch Bedürfnisse zu
ersetzen, ersetzt Brigitte Kratzwald nur Werte durch - Werte ...
Wenn Brigitte Kratzwald vor einem "Tugendterror" warnt, sollte die GWÖ
eine solche Gefahr durchaus ernst nehmen. Die Betonung der Werte darf
natürlich nicht dazu führen, dass Menschen stigmatisiert werden, die
solche Werte nicht teilen. Die GWÖ muss z.B. berücksichtigen, dass
pubertierende Jugendliche die Werte der Erwachsenenwelt quasi aus
Prinzip ablehnen. Andererseits halte ich diese Gefahren für überschaubar, da die Orientierung an Wertvorstellungen sich ja vor
allem auf die Wirtschaft bezieht, und nur in der wirtschaftlichen Welt
gibt es die besagten Anreize und Sanktionen. Aber wenn nun z.B. ein
GWÖ-Taxifahrer Vertrauensbildung doof findet, sehe ich nicht, dass ihm
daraus irgendwelche Nachteile erwachsen würden ...
Ähnlich wie Exner setzt auch Kratzwald eher auf die Projekte der
Solidarischen Ökonomie und wirft der GWÖ vor, sie habe "wenig Vertrauen
in die Selbstorganisationfähigkeit von Menschen und sie haben auch
Angst davor, sich auf Entwicklungsprozesse einzulassen, irgendwie haben
sie einen Kontrollzwang." (Kratzwald 80%) Und am Ende heißt es: "Diese
Gegengeschichten können wir nur gemeinsam schreiben, wir müssen sie
selber schreiben und ich bin sicher, sie entstehen nicht vom
Schreibtisch aus." (Kratzwald 95 %) - Ich denke, die GWÖ ist eine
notwendige Ergänzung zur Solidarischen Ökonomie, wenn diese wirklich
ihre Nischen verlassen und die ganze Gesellschaft umgestalten will. Man
kann auch von den Menschen, die in der Solidarischen Ökonomie arbeiten
und dort genug zu tun haben, nicht auch noch erwarten, ein
gesellschaftliches Gesamtkonzept auszuarbeiten und entsprechende
Netzwerke zu organisieren. Dies ist die Aufgabe von Philosophen und
Sozialwissenschaftlern, die so etwas "vom Schreibtisch aus" machen. Mit
der GWÖ verbinde ich die Hoffnung, dass sich in ihrem Namen eine echte
antikapitalistische Gegen-Wirtschaft entwickeln kann, indem einerseits
Produzenten (aus dem Spektrum der Solidarischen Ökonomie und andere)
sich hier zu einem effektiven Netzwerk zusammenschließen, und
andererseits auch Konsumenten, die ihre vereinigte Macht nutzen, um
gezielt die Produkte der GWÖ-Produzenten zu kaufen und möglichst wenig
andere.
Dabei sehe ich die GWÖ als ein offenes Projekt, dass sich in der
Entwicklung befindet, und dass gewiss in vielen Punkten noch
konstruktive Kritik nötig hat. So finde ich es in der Tat
bedenkenswert, wenn Andreas Exner schreibt: "Die Felbersche Konzeption
der Betriebe, die aus nicht ersichtlichen Gründen Gemeinwohlpunkte über
jenes Maß hinaus sammeln, das ihnen den Genuss von staatlichen
Förderungen bei möglichst geringem sonstigen Aufwand bringt, hat
denselben Fehler wie die sowjetische "Tonnenplanung". (...) Da die
sowjetische Ökonomie nicht auf konkrete Bedürfnisbefriedigung
ausgerichtet und von den Menschen direkt geplant wurde, sondern eine
Marktwirtschaft (unter starkem staatlichem Kommando) darstellte,
machten die sowjetischen Betriebe das, was in einer Marktwirtschaft
tendenziell alle tun: sie versuchten die Planvorgaben zu umgehen bzw.
mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel herauszuholen." (NWiS 75 %).
So laufe auch die GWÖ Gefahr, ein bürokratisches Ungetüm zu werden.
Deshalb sollten wir überlegen, ob wirklich diese Vielzahl
unterschiedlicher Gemeinwohlpunkte notwendig ist. Vielleicht wäre
weniger mehr? Vielleicht hätte auch allein die Einführung der
Demokratischen Bank (verbunden mit der Abschaffung aller
Finanzspekulationen) und die Regel, dass Unternehmensanteile nur noch
im Besitz von Menschen sein dürfen, die selbst in dem Unternehmen
arbeiten, einen ausreichenden Gemeinwohl-Effekt auf die Wirtschaft?
Darüber sollte nachgedacht und diskutiert werden.
Quellen:
Andreas Exner, Neue Werte im Sonderangebot
http://www.streifzuege.org/2011/neue-werte-im-sonderangebot-die-gemeinwohlokonomie-christian-felbers
(= NWiS)
Andreas Exner, Solidarische Ökonomien statt 'Gemeinwohl-Ökonomie'
http://www.streifzuege.org/2011/solidarische-oekonomie-statt-gemeinwohl-oekonomie
(= SÖsGÖ)
Christian Felber, Gemeinwohl-Ökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Wien 2010 (= Felber)
Brigitte Katzwald, Die Gemeinwohlökonomie und attac
http://kratzwald.wordpress.com/2011/06/06/die-gemeinwohlokonomie-und-attac/ (= Kratzwald)